Thema:
Die Kasse zahlt alles... flat
Autor: Sven Mittag
Datum:21.02.20 15:34
Antwort auf:Der Gesundheitsthread - Spahnende Zeiten von Sven Mittag

Ich liebe meinen Job! Auch wenn viele nicht verstehen, wie man Zahnarzt oder gar Chirurg sein kann, so habe ich wirklich Spaß an meiner Tätigkeit. Sie bietet Kontakt mit Menschen und ist wahnsinnig abwechslungsreich. Wir arbeiten handwerklich, künstlerisch, dürfen moderne Software nutzen, haben vom 3D-Drucker bis zur CAD/CAM-Fräseinheit echtes Hightech im Haus und können alles selbst bedienen und nutzen, arbeiten auf wissenschaftlichen Grundlagen und können und müssen uns aufgrund der Detailverliebtheit unserer Arbeit jeden Tag aufs Neue herausfordern.

Was ich nicht liebe, ist das deutsche Gesundheitswesen. Versteht mich nicht falsch: Ich leugne nicht, dass ich durch meinen Beruf in unserem System sehr gut verdiene! Ich weiß, dass jeder Patient - ja, auch Kassenpatient - sich ungemein glücklich schätzen sollte, in Deutschland zu leben. Immerhin wird er wirklich sehr gut versorgt. Was mich stört, ist die Bürokratie und Verlogenheit des Systems.

Der Deutsche glaubt, als Kassenpatient hat er Anrecht auf jede medizinisch notwendige Behandlung. Dies ist nicht die Meinung von Telemesse, dies ist der feste Glaube fast jeden Patienten. Die Vorstellung ein Patient „Zweiter Klasse“ zu sein, sorgt automatisch für kleine Wutbürger. Dabei stellt dies die Realität dar und ist - mit Verlaub - auch gut so. Medizin ist in den vergangenen 50 Jahren sehr fähig geworden, Fehler im menschlichen System auszumerzen. Unser Verständnis des Körpers und seiner Abläufe sind mittlerweile immerhin so stark gestiegen, dass wir unsere durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland (!) massiv Richtung 90 Jahre schieben konnte.

Wie ich schon in einem einem Reply geschrieben habe, steht jedoch dem Kassenpatienten hier nicht das gesamte Spektrum des medizinisch Möglichen zur Verfügung. Nicht nur in der Industrie gilt der Grundsatz. Die letzten 20 % Qualität machen 80 % des Aufwands aus. Und dies gilt auch für die Medizin. Entsprechend teuer wird wirklich moderne und perfekte Medizin. Und diese Kosten kann nunmal keine Gesellschaft, wenn Sie nicht gerade auf irgendwelchen begehrten Rohstoffe sitzt, stemmen. Und entsprechend gilt im immer noch sackteuren deutschen Gesundheitssystem das Prinzip des „wirtschaftlichen, ausreichend und zweckmäßige“. Was dabei wirtschaftlich, ausreichend und zweckmäßig ist, dass entscheiden die Kassen (möglichst wenig), die Ärzte (möglichst viel) und dank Spahn in letzter Zeit die Politik (Mein Zauberwürfel sagt „Vielleicht“).

Und ja, dies führt dazu, dass hier manchmal der Rotstift angesetzt wird, wo es auch Medizinersicht echt weh tut. Entweder weil es keinen oder nur sehr bedingt wirtschaftlichen Sinn macht (Kostenübernahme beim CT, jedoch nicht beim DVT) oder halt überhaupt keinen Sinn bis hin zur Körperverletzung aufs Staatswunsch (Kostenablehnung bei Wurzelkanalbehandlungen im Seitenzahngebiet aufgrund von Studien aus den 80er Jahren).

All dies ist jedoch für einen Menschen, der das ganze System sieht, irgendwo noch nachzuvollziehen. Was mich aber als Mediziner echt ankotzt, ist die Tatsache, dass Politik und Krankenkassen hier sehr gerne den schwarzen Peter an die Behandler weiterreichen. Die Aussage von der Kostenübernahme allen medizinisch Notwendigen beten Politik und Kassen in jeder freien Sekunde runter. Und der Patient ohne nötiges Fachwissen glaubt dies natürlich.

Als Resultat bist du als Behandler der Doofe, wenn du deine Patient über bessere Behandlungsmethoden aufklärt. Aus Sicht des Patienten geht es dir ja nur ums Geld! Dies wird ja auch immer wieder gerne in den Medien so thematisiert. Schön als extreme Fallbeispiele! Entsprechend hältst du gefälligst im Bestfall die Klappe und machst günstige Kassenmedizin. Aufklärung über besser Alternativen nur im Sonderfall.

Dabei ist auch dieser Punkt prinzipiell verständlich. Leider ist nämlich dieses Forum kein Extrembeispiel an „Meine-Meinung-ist-die-einzig-Wahre“ und „Ich-habe-ein-Anrecht-auf-alles-BILLIG!!!-SOZIALGERECHT-KLIMANEUTRAL!!!!“. Leider ist es wirklich bei 90 Prozent der Leute im Kopf, dass es ihr Recht ist, innerhalb des Sozialsystems die perfekte Medizin zu erhalten. Da die Kassen nicht als Buh-Männer und Frauen und Diverse dastehen wollen und die Politiker keine Politik des Richtigen, sondern Politik für Wählerstimmen betreiben, muss einem die Reaktion nicht weiter wundern.

Der zweite Aufrege-Punkt ist die Bürokratie. Wer nicht im Kassensystem gelebt hat, glaubt den Wahnsinn nicht. Disclaimer: Alle genannten Punkte gelten nur für Bayern. Jedes Bundesland hat eigene Richtlinien, die z.T. stark abweichen. Insgesamt lässt sich aber sagen, dass es in Bayern im Regelfall IMMER besser ist als anderswo in Deutschland, da hier nunmal das Geld etwas lockerer sitzt. Also im Zweifelsfall immer im Kopf behalten: Es geht wirklich NOCH schlimmer!

Wo fangen wir an? Das System ist leider so komplex, dass ich es vermutlich mir selbst nicht in seiner Gänze erklären kann. Wie wäre es aber zunächst mit dem HVM - Honorverteilungsmaßstab. Nachdem der Gesetzgeber davon ausgehen muss, dass die Kassen nur über begrenzte Ressourcen (Geld) verfügen, jedoch alle Leistungen erbracht werden sollen, macht er es sich leicht. Geht der Krankenkasse über das Jahr das Geld aus, so darf Sie im Nachgang das ausgezahlte Honorar kürzen. Zugesichert sind nur 30 %. Dies bedeutet: Du arbeitest dir bei einer gutgehend Praxis den Rücken krumm, die Patientenflut wegzuschaffen. Und am Ende streicht dir die Kasse dein zugesichertes Honorar - theoretisch sogar weit unter der Wirtschaftlichkeitsgrenze. Die Streichung erfolgt natürlich nie zeitnah, sondern erst so nach 2-3 Jahren. Da die Kasse so lange braucht, um zu berechnen, ob das Geld aus den Vorjahren gelangt hat. Bis du zwischenzeitlich in Rente, darfst du von deinem Ersparten das Geld zurückzahlen. Ich kann euch sagen, die Motivation für die Kasse zu arbeiten, steigt bei solchen Aktionen natürlich ungemein. Zwar waren bisher so starke Kürzungen nie nötig (meist wurden im Nachgang nur 2-3 % gekürzt), aber witzig ist es dennoch.

Man stelle sich das Szenario nur in anderen Berufssparten vor. Der Arbeitgeber stellt fest (2-3 Jahre später), dass es weniger Einnahmen in einem Jahr hatte und fordert das Gehalt von seinen Angestellten einfach anteilig zurück, damit er keinen Verlust macht. Aber ich weiß: es geht ums Sozialsystem, daher ist es natürlich voll in Ordnung!

Nächstes Thema „100-Fall-Statistik“: Damit du entsprechend nicht zu viel arbeitest, gibt es die so genannte Wirtschaftlichkeitsklausel. Du musst wirtschaftlich arbeiten. Was heißt dies für den Staat? Deine Behandlungszahlen müssen unter anderem im statistischen Durchschnitt liegen. Weichst du davon ab, werden dir alle überzähligen Leistungen gestrichen. Wenn also alle Dr. Meyers 100 Füllungen pro 1000 Patienten im Quartal legen, musst auch du maximal 100 Füllungen im Quartal legen. Bis 130 Füllungen wird dir auf Händchen gepatscht. Die 131. Füllung einfach nicht mehr gezahlt, bzw. das Honor (nach 1-2 Jahren Prüfungsdauer) zurück gefordert. Ausnahme ist, du kannst nachweisen, dass die 131 Füllungen wirklich nötig sind. Wie machst du dies? Genau, indem du aufzeigst, dass du durch deine 131 Füllungen der Kasse an anderer Stelle Geld gespart hast. Also die Notwendigkeit der Füllung (Schmerzen beim Patienten) ist wohlgemerkt kein Argument für dein Handeln! Ergo behandele ich nur nach Durchschnitt und wenn halt die 131 Füllung im Quartal ansteht, muss ich meinen Patienten sagen, dass ich erst in 2 Monaten seinen abgebrochenen Zahn behandeln kann. Weil Handicap und so! Davon ab ist es natürlich sehr schön, solche Zahlen konstant überwachen zu müssen. Immerhin habe ich nicht nur Medizin, sondern auch Statistik gelernt. Und natürlich ist jede Praxis in Deutschland von der Struktur her komplett Durchschnitt. Man bedenke nur, es gebe Fachärzte, die auf Dinge wie Oralchirurgie spezialisiert sind. Dann müsste man ja Ausnahmen machen! Welche man leider auch erst nach 3-4 nerven- und zeitintensiven Prüfungen macht und auch wirklich NUR für Fachärzte gelten.

Der Grund für eine solche rechtlich sehr fragwürdige Prüfungsmethode der Wirtschaftlichkeit ist dabei recht einfach. Sie ist einfach! Eine genaue Prüfung auf unwirtschaftliches Handeln würde einen enormen Zeitaufwand kosten, welcher der Gesetzgeber sich einfach nicht aufbürden will. Auch wenn dies rechtlich aus … nun ja sehr fragwürdigen Füßen steht. Aber solange das Sozialgericht immer „Pro Staat“ entscheidet und sich das Verfassungsgericht weigert, diese Dinge zu behandeln, macht rebellieren nur wenig Sinn.

Nun könnte man meinen, dass dieses Mittel allein ausreicht, um die Kosten innerhalb des Systems zu kontrollieren, aber dies wäre viel zu einfach! Entsprechend hat man noch das Budget entwickelt. Jeder Arzt hat einen maximalen Betrag, welchen er von der Kasse pro Jahr ausgezahlt kriegt. Erreicht er diesen Betrag, werden zunächst 25 % des Honorars für weitere Leistungen gekürzt, danach 50 % und bei noch weiterer „Mehrleistung“ kriegt man für jeden Handgriff 75 % weniger. Sprich: Ab einer bestimmten Arbeitsmenge rentiert es sich nicht, zu arbeiten. Dies lässt sich nur aushebeln, indem man weitere Ärzte mit ins Boot holt. Dies geht in der Stadt noch ganz ordentlich, wird auf dem Land zur Katastrophe.

Zumal auch hier natürlich wieder Einschränkungen vorliegen. Pro Partner darf nur ein Assistenzarzt gleichzeitig ausgebildet werden. Und dies auch erst nach 3 Jahren Selbstständigkeit. Wieso? Naja, drei Jahre weniger Budget auszahlen natürlich! Alternativ dürfen bis zu zwei angestellte Ärzte pro Partner in der Praxis sein. Als Grund für die Beschränkung argumentiert die Kasse, dass man als Besitzer einer Praxis eine Aufsichtspflicht hat (richtig) und diese ab 2 Angestellten nicht mehr erfüllt werden kann. Wieso ich jedoch meine Angestellten so engmaschig beaufsichtigen muss, wenn Sie ja zum Teil älter, erfahrener und besser ausgebildet sein können, erschliesst sich zumindest mir nicht.

Natürlich ist dieser Grund von der Kasse nur vorgeschoben. Grund für diese Reglung ist, das Budget und insgesamt damit Kosten für die Kasse niedrig zu halten. Einzige Möglichkeit nach den zwei Angestellten zur Budgeterhöhung wäre nämlich dann nur ein neuer Partner, was einer Ehe unter finanziellen Gesichtspunkten gleich kommt und somit sehr schwer zu realisieren ist. Und auch so verwundert es dann nicht, wieso so manche gut(gehend)e Praxis irgendwann einen rechtlich nicht zulässigen Aufnahmestopp bei Patienten durchführt.

Hab ich nämlich schon erwähnt, dass ich mit einer Kassenzulassung keinen Kassenpatienten abweisen darf. Glücklicherweise wissen dies die Kassenpatienten nicht, aber ich bin verpflichtet, jeden Kassenpatienten, der bei mir auftaucht zu behandeln. Wenn mein Budget überschritten ist oder ich dadurch aus der 100 Fall-Statistik falle, ist es halt mein Problem. Gut ich kann natürlich die Termine versuchen, so weit nach hinten zu setzen, dass er keine Lust mehr auf warten hat. Ich sehr speziellen Fällen kann ich auf den Verlust des Arzt-Patienten-Vertrauensverhältnisses pochen. Aber ein allgemeiner Aufnahmestopp wie ihn mittlerweile viele gute Praxen praktizieren, ist rechtlich in Deutschland mit Kassensitz verboten.

Wie nennt man eigentlich noch mal das Arbeitsverhältnis, in dem man zur Arbeit gezwungen wird ohne dafür bezahlt zu werden?

Dies ist jetzt nur ein kleiner Einblick in unser tolles Kassensystem. Und wenn ihr mir eins glauben mögt. Wenn die Bürgerversicherung wirklich kommen sollte, so werden die „Besonderheiten“ nur zunehmen. Anstatt nämlich am Versicherungsrecht rumzuspielen, sollte man in der Politik das System in seiner Gänze überdenken.

Wieso nicht ähnliche Verhältnisse wie in England oder Schweden? Wieso muss ich als Selbstständiger mich mit mindestens einer halben Million verschulden (Durchschnittliche Investition bei einer Niederlassung in der Zahnmedizin), um mich dann einem System zu unterwerfen, welches absolut nichts mit Selbstständigkeit zu tun hat? Wieso kann der Staat nicht so ehrlich sein, die Investitionskosten für die Praxen, die Gehälter für Behandler und Personal übernehmen und mich gerne als Angestellter arbeiten lassen? Dann habe ich keine 70 Stunden-Wochen mehr, muss mir keine Sorgen über die Millionen-Kredite bei der Bank machen und kann die Personalsorgen zumindest in Teilen meiner zuständigen Aufsichtsbehörde überlassen. Klar verdiene ich in dem Szenario weniger als jetzt. Wenn ich jedoch von meinem Spitzenverdienst eh 80 % an die Bank zahlen muss, bleibt am Ende sicherlich ein ähnlicher Betrag bei mir hängen.

Der Grund ist natürlich ebenfalls sehr einfach. Ein Gesundheitssystem, welches komplett verstaatlich wäre, ist teurer und bei weitem nicht so effektiv. Ich würde ohne finanziellen Druck eben keine 70 Stunden mehr arbeiten und als Chef im Alleingang alle Aspekte der Praxis stemmen. Einfach weil ich es am Ende muss…


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