Thema:
Re:Kleine Korrektur: flat
Autor: Karotte
Datum:07.08.20 11:22
Antwort auf:Re:Kleine Korrektur: von BOBELE

>Dann sind wir uns da ja sehr viel mehr einig als es vielleicht eingangs gewirkt hat. Diese Einstellung hat ja in der Kirche aber keinen Platz, und darum leider auch im gelebten Christentum der allermeisten Christen nicht, die einfach keinen Ausweg aus diesen Sekten schaffen. Das ist ja aber auch schwer. Weil:
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>>>Glauben muss nicht stören und schlecht sein. Ist er aber oft.
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>>Da habe ich mich wohl etwas missverständlich ausgedrückt. Was ich eigentlich sagen wollte, ist: Wer hindert einen daran, wie du sagst, den Glauben frei und unbeeinflusst zu leben? Ich habe mich selbst nur als Beispiel dafür herangezogen. Wie ich eingangs erwähnte, beteilige ich mich praktisch nicht am Gemeindeleben, sondern betrachte Religiosität als etwas sehr Persönliches, das nicht unmittelbar mit irgendwelchen externen Ritualen zu tun hat.
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>Rein faktisch hindert mich niemand. Ich kann diese Weltanschauung zu der meinen machen und in meinem kleinen Umfeld danach leben und sogar versuchen, offensiv für diese Lebens- und Denkensform zu werben. Mehr aber auch nicht. Gemeinschaft finde ich so nicht, GEMEINDE finde ich so nicht. Ich bin abgeschnitten von den Möglichkeiten der bestehenden Gemeinschaft, mit den dort verfügbaren Mitteln und der gemeinsamen Kraft wirklich was zu bewirken, wenn ich das wollte. Ich ordne mich entweder den bestehenden Sektenstrukturen unter oder ich finde im Gemeindeleben nicht statt. Das ist ja zum Beispiel das Problem der Frauen, die sich in den Gemeinden engagieren, weil sie aus zutiefst empfundener Christlichkeit helfen wollen, Menschen unterstützen wollen, pflegen wollen, einfach Christ sein wollen. Wenn sie aber darüber hinaus in Ihrem Glauben aktiv sein wollen, können sie das nicht. Der Weg in die Ämter der Kirche ist ihnen von eben den oben gescholtenen Popanzen verbaut.
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>Wäre es jetzt so, wie Du sagst, könnten sie einfach der Amtkirche den Rücken kehren und ihren Glauben einfach für sich leben. Aber das scheitert schon daran, dass sie dann den Kontakt zur bestehenden Glaubengemeinschaft verlieren, es sei denn, sie schaffen es, mit quasi einer ganzen bestehenden Gemeinde auszutreten. Die Kirche ist sehr gut darin, Menschen, die ihr den Rücken kehren, komplett aus der Glaubensgemeinschaft auszuschliessen. Ein Mensch, der das versucht, nimmt nicht mehr an der Gemeinschaft teil. Er darf sich auch in rein sozialen, nicht direkt kirchlichen Dingen nicht mehr einbringen. Er ist raus.
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>Es ist also wirklich für engagierte Menschen nicht so einfach. Was fehlst, sind etablierte Strukturen für Christen, die sich unabhängig von tatsächlichem Glauben oder rituellem Getue einfach aufgrund ihrer Weltanschauung zusammenfinden, als Gemeinde begreifen und entsprechend leben. Ich sage nicht, dass das nicht passieren könnte. Es passiert aber einfach nicht. Weil die Kirchen das Feld belegen und aufs Blut verteidigen.


Auf dem Gebiet bin ich tatsächlich völlig unwissend. Ich kenne nur ein paar Leute, die sich ehrenamtlich in den deutschen Niederlassungen der italienischen katholischen Kirche einbringen und nie groß Beef mit den Strukturen hatten. Evtl. ist das Maß der doktrinären Penetranz auf so einem „niedrigen“ Level dann eher von dem individuellen Kirchenpersonal vor Ort abhängig (oder die Südländer sind, dem Klischee entsprechend, etwas lockerer unterwegs ;o))?

Denkbar wäre vielleicht ein anderer, ökomenischer Ansatz. Also dass man nicht andere progressive Christen als Gemeinde im traditionellen Sinn sucht, sondern sich eher mit „Menschen mit kompatiblen Wertvorstellungen“ kurzschließt. Da kann dann der Muslim sich engagieren, weil Almosen eine seiner fünf Säulen sind, der Christ, weil er dem Vorbild Jesu folgt, der Atheist, weil er es aus seiner individuellen sozialen Überzeugung für richtig hält, usw.

Ich denke nur, dass Zusammenschlüsse von Menschen auch außerhalb der Kirche dazu neigen, doktrinäre Strukturen zu entwickeln. Ich habe das in einer lokalen Protestbewegung (ohne religiösen Hintergrund) und selbst im Kleinen in der Schulzeit oder in unserem Mehrfamilienhaus erlebt. Irgendwer versucht immer, eine noch so unbedeutende Machtposition für sich herauszuholen und der Gesamtheit sein „Regelwerk“ aufzudrücken. Von diversen Bekannten, die BWL-Vorlesungen absitzen mussten, kam auch immer dieser Eindruck, der Predigt einer neuartigen, „materialistischen Religion“ beigewohnt zu haben, deren Kern die Überlegenheit der erleuchteten Wirtschaftschecker gegenüber dem dummen Fußvolk auf der Straße ist.

Womit wir letztlich wieder bei einem Teil meiner Kritik an der gängigen Antireligiosität wären: Dass ein Stück weit allgemeinmenschliche Dynamiken, wie eben das Verhalten von Alphatieren, die ihr Revier markieren und Macht missbrauchen, selektiv der Kirche angekreidet werden, obgleich etwa sowas wie Metoo aufzeigt, wie weit verbreitet ganz ähnliche Strukturen auch in nichtkirchlichen Bereichen sind. Das macht die Kirche natürlich nicht besser, aber es macht imho einen Unterschied, ob man sagt: „Der Glaube ist schuld an diesem Missstand.“ oder „Der Missstand besteht dort, wo sich Menschen zusammenrotten und wirkt sich entsprechend auch in der Kirche aus.“ Imho geben sich geistliche und weltliche Ideologien und ihre jeweiligen Fundies da nichts.

In diesem Zusammenhang ist es natürlich bedauerlich, dass wir den Herrn Epstein nicht mehr fragen können, wie es mit der Pederastie in den höchsten Ebenen der säkularen Politik und Finanzwelt aussieht. ;o)

>Reduzierst Du den Glauben wirklich nur auf das persönliche Erleben und Denken, dann hast Du recht. Da bist Du frei. Wenn Dir das aber nicht reicht... ich habe Christentum einfach elementar anders verstanden.
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>Wenn ich vielleicht kurz meinen Hintergrund schildern darf, falls es Dich interessiert, warum ich bei dem Thema recht emotional werden kann: Ich habe eine Vergangenheit in einem Kloster mit einer SEHR positiven Erfahrung bzgl. gelebten Christentum. Sieben Jahre, in denen ich durchaus auf eine Aufnahme in dem Orden zugesteuert habe, an deren Ende ich mich aber gänzlich von der Kirche abgewendet habe. Jetzt wäre es ja cool, so ne schöne Missbrauchsgeschichte aus dem Hut zu zaubern... wer kann da schon was gegenhalten. Aber nein, im Gegenteil, ich hatte die besten und erfülltesten Jahre meiner Jugend in dem Konvikt. Vor allem habe ich gelebte Kirche kennengelernt, wie sie sein sollte. Bis ich eben im Detail dann plötzlich nicht mehr ins vorgegeben Raster passe und das ganze seine hässliche Fratze zeigt. Eben jeglicher christlicher Gedanke hinter widerlichem Kleingeist zurückstehen muss. Die Enttäuschung ist eben ganz besonders stark, wenn Du Dich emotional involviert hast. Wenn Du Gemeinschaft gefunden zu haben glaubst, aber die Kirche Dich eiskalt davon abschneidet, wenn Du eigentlich Unterstützung bei der Selbstfindung gebraucht hättest. Ein kleines bisschen christlicher Geist hätte gereicht, um einen Menschen weniger aus der Gemeinschaft zu treiben. Heute wäre mir die Kirche nicht mal den Speichel wert, den ich ihr auf die Treppe speien möchte. Und ich trauere um die guten Menschen, von denen ich weiß, dass sie mit der Kirche hadern, aber den Absprung nicht schaffen, sondern sich eben den Anforderungen ergeben, die die Kirche an das "Christsein" stellt.


Ich glaube, jetzt verstehe ich deinen Standpunkt tatsächlich besser. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, deinen Hintergrund zu erläutern, denn ich finde das enorm interessant. Man „begegnet“ nicht jedem Tag einem Menschen, der sogar den Eintritt in einen Orden ernsthaft in Erwägung gezogen hat. Dass die Erfahrung am Ende, gerade weil du so leidenschaftlich am Ball warst, umso enttäuschender ausgefallen ist, ist natürlich bitter und nachvollziehbar.

Gleichwohl ist deine Kritik jetzt eine sehr spezifische und differenzierte solche, die aus deiner unmittelbaren, persönlichen Erfahrung erwachsen ist und die ich von der allgemeinen, doch recht platten, „Religion ist böse!“-Dogmatik abgrenzen würde, die einem normalerweise, wie auch hier im Forum, gerne entgegenschlägt, sobald das Thema Glaube aufkommt. Es ist diese Dogmatik, gegen die sich meine Kritik richtet. Dass bei der Kirche einiges im Argen liegt, würde ich nie bezweifeln. Ich kann nur diese fundamentale Abwehrhaltung nicht nachvollziehen, die gar nicht verstehen _will_, dass intelligente, progressive Menschen, die nichts mit Fundamentalismus am Hut haben, Religion als sehr erfüllend empfinden können.


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