Thema:
Re:Kleine Korrektur: flat
Autor: BOBELE
Datum:06.08.20 15:11
Antwort auf:Re:Kleine Korrektur: von Karotte

>>Ich denke aber noch einen Schritt weiter: Nicht nur der Glauben muss von der Institution getrennt werden, die Weltanschauung und Werte müssen vom Glauben getrennt werden. Zumindest von dem institutionalisierten Glauben, den wir kennen.
>
>Ich weiß nicht, ob ich das so unterschreiben würde. Aber vielleicht verstehen wir unter „Glauben“ zwei verschiedene Dinge. Jedenfalls betrachte ich es nicht als inhärent negativ, wenn man davon ausgeht, dass es eine metaphysische Gewalt gibt, die alles erschaffen hat und das Maß der Dinge darstellt. Sofern man sich darüber im Klaren ist, dass man dies nicht beweisen kann und diese persönliche Überzeugung nicht über messbaren, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen (und der persönlichen Überzeugung anderer Leute) steht.


Ja, das finde ich auch nicht negativ. Im Gegenteil weiss ich ja nix, halte darum so ziemlich alles für möglich, die definierten Geschichten der bekannten Religionen nur für äusserst unwahrscheinlich. Aber ja, nicht per se negativ.

>Ich glaube, in Brechts „Galileo“ gibt es eine Stelle, in der ein Kardinal den Wissenschaftler fragt, was er machen würde, wenn Gott den Planeten komplexe Bewegungsmuster anstatt der damals angenommenen, „simplen“ Laufbahnen gegeben hätte. Galilei antwortet sinngemäß: Hätte Er das getan, hätte Er uns auch ein Gehirn gegeben, das diese komplexen Bewegungsmuster zu berechnen in der Lage gewesen wäre. Hat mir immer sehr gefallen. ;o)

:) Sollte ich wohl mal lesen.

>>>Davon ab, denke ich nicht, dass sich die menschliche Natur in ein paar tausend Jahren wirklich so großartig gewandelt hat. Gerade heute wird der Begriff des „Narrativs“ inflationär gebraucht. Es geht eben nichts über eine gute Geschichte, wenn man Konzepte einem breiten Publikum vermitteln will.
>>
>>Ich weiss, was Du meinst. Aber auch die menschliche Natur hat sich verändert durch Bildung, Aufklärung, gesellschaftliche Vorbilder. Ich kann heute auf einem ganz anderen Level die Vorstellung von Gesellschaftsethik vermitteln als das vor 2000 Jahren möglich war. Ich kann heute mit so gut wie jedem ein Gespräch darüber führen, ob oder warum wir uns so oder so verhalten sollten und was für Auswirkungen hat und jeder findet auf dieser Ebene dann eine Meinung zu der Frage. Einem Bauern in Syrien im Jahr 100, der nur seine eigene harte Umwelt und Gesellschaft kennt, krieg ich doch so nichts in den Kopf. Dem ist das Konzept von Selbstlosigkeit und Nächstenliebe vermutlich schon aufgrund der eigenen und überlebenswichtigen Abhängigkeit von ganz anderen Verhaltensweisen völlig fremd. Der brauchte dann eben die "gute Geschichte" und zur Not eben die Unterordnung unter den Willen des Gottes, weil sonst...
>
>Da bin ich mir, ehrlich gesagt, noch nicht so sicher. Imho muss die westliche Welt den Beweis, dass eine liberale, letztlich auf der individuellen Vernunft fußende, Gesellschaft langfristig funktionieren kann, erst noch erbringen. Unsere demokratische Kultur war von Anfang an von einer wirtschaftlichen Vormachtstellung in Watte gepackt, die wir in den vorangegangenen Zeitaltern durch Ausbeutung und Gewalt in allen Himmelsrichtungen aufgebaut und gefestigt haben. Es ist sehr leicht, von dieser komfortablen Warte aus den aufgeklärten Demokraten zu geben — und selbst in dieser Hochphase sind „Nächstenliebe“ und „Friedfertigkeit“ nicht gerade die Maximen, nach denen unsere Staats- und Wirtschaftsideologien in der Praxis funktionieren bzw. nach denen im Alltag gelebt wird.


Auch da gebe ich Dir recht. Das ist ja aber eigentlich der Punkt, an dem ein christliches Wirken zu Veränderungen führen könnte. Es bremst sich nur selber aus durch die Beschränkung auf sektenartige Strukturen und weltfremde Gebräuche und Inhalte, die ein tatsächliches Durchdringen der Gesellschaft quasi unmöglich machen.

>Lassen wir die Situation noch ein wenig eskalieren bzw. den (wahrgenommenen) Wohlstand weiter sinken, dann wird sich zeigen, ob an diesem ganzen „Die Zivilisation ist nur eine hauchdünne Schicht“-Ding nicht doch mehr dran ist, als einem lieb ist.

Keine Frage.

>>Das, was wir aber heute als "Glauben" haben, geht aber vielfach noch von Geschichten aus, die sich auf die Lebensumstände von vor 2000 Jahren beziehen. Vieles ist universal gültig, wie das Konzept der Friedfertigkeit und Nächstenliebe, vieles aber auch heute komplett aus der Zeit gefallen, speziell alttestamentarisches. Das sind dann ganz offensichtlich aus der damaligen Gesellschaft abgeleitete Regeln, die damals ganz direkt Sinn gemacht haben, heute aber nicht mehr. Ein Großteil der christlichen Glaubensgeschichte ist doch nur Theodizee in Reinkultur und kann ersatzlos gestrichen werden. Im besten Fall störts nicht, führt nur dazu, dass gläubige Christen die guten Dinge aus falschen Motiven tun. Im schlechten Fall vermischt sich das ganze mit mittelalterlichen Umdeutungen und Erweiterungen auf irgendwelchen Konzilen zu einer inhaltlichen Sauce, die mit der Grundidee nichts mehr zu tun hat.
>
>Also für das Alte Testament bitte bei den Juden klingeln, ich habe damit nichts am Hut. ;o)
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>Nein, im Ernst: Dass man religiöse Überlieferungen interpretieren und vor dem jeweiligen historischen Kontext sehen muss, wäre jetzt etwas, das ich als Grundvoraussetzung sehen würde.


Dann sind wir uns da ja sehr viel mehr einig als es vielleicht eingangs gewirkt hat. Diese Einstellung hat ja in der Kirche aber keinen Platz, und darum leider auch im gelebten Christentum der allermeisten Christen nicht, die einfach keinen Ausweg aus diesen Sekten schaffen. Das ist ja aber auch schwer. Weil:

>>Glauben muss nicht stören und schlecht sein. Ist er aber oft.
>
>Da habe ich mich wohl etwas missverständlich ausgedrückt. Was ich eigentlich sagen wollte, ist: Wer hindert einen daran, wie du sagst, den Glauben frei und unbeeinflusst zu leben? Ich habe mich selbst nur als Beispiel dafür herangezogen. Wie ich eingangs erwähnte, beteilige ich mich praktisch nicht am Gemeindeleben, sondern betrachte Religiosität als etwas sehr Persönliches, das nicht unmittelbar mit irgendwelchen externen Ritualen zu tun hat.


Rein faktisch hindert mich niemand. Ich kann diese Weltanschauung zu der meinen machen und in meinem kleinen Umfeld danach leben und sogar versuchen, offensiv für diese Lebens- und Denkensform zu werben. Mehr aber auch nicht. Gemeinschaft finde ich so nicht, GEMEINDE finde ich so nicht. Ich bin abgeschnitten von den Möglichkeiten der bestehenden Gemeinschaft, mit den dort verfügbaren Mitteln und der gemeinsamen Kraft wirklich was zu bewirken, wenn ich das wollte. Ich ordne mich entweder den bestehenden Sektenstrukturen unter oder ich finde im Gemeindeleben nicht statt. Das ist ja zum Beispiel das Problem der Frauen, die sich in den Gemeinden engagieren, weil sie aus zutiefst empfundener Christlichkeit helfen wollen, Menschen unterstützen wollen, pflegen wollen, einfach Christ sein wollen. Wenn sie aber darüber hinaus in Ihrem Glauben aktiv sein wollen, können sie das nicht. Der Weg in die Ämter der Kirche ist ihnen von eben den oben gescholtenen Popanzen verbaut.

Wäre es jetzt so, wie Du sagst, könnten sie einfach der Amtkirche den Rücken kehren und ihren Glauben einfach für sich leben. Aber das scheitert schon daran, dass sie dann den Kontakt zur bestehenden Glaubengemeinschaft verlieren, es sei denn, sie schaffen es, mit quasi einer ganzen bestehenden Gemeinde auszutreten. Die Kirche ist sehr gut darin, Menschen, die ihr den Rücken kehren, komplett aus der Glaubensgemeinschaft auszuschliessen. Ein Mensch, der das versucht, nimmt nicht mehr an der Gemeinschaft teil. Er darf sich auch in rein sozialen, nicht direkt kirchlichen Dingen nicht mehr einbringen. Er ist raus.

Es ist also wirklich für engagierte Menschen nicht so einfach. Was fehlst, sind etablierte Strukturen für Christen, die sich unabhängig von tatsächlichem Glauben oder rituellem Getue einfach aufgrund ihrer Weltanschauung zusammenfinden, als Gemeinde begreifen und entsprechend leben. Ich sage nicht, dass das nicht passieren könnte. Es passiert aber einfach nicht. Weil die Kirchen das Feld belegen und aufs Blut verteidigen.

Reduzierst Du den Glauben wirklich nur auf das persönliche Erleben und Denken, dann hast Du recht. Da bist Du frei. Wenn Dir das aber nicht reicht... ich habe Christentum einfach elementar anders verstanden.

Wenn ich vielleicht kurz meinen Hintergrund schildern darf, falls es Dich interessiert, warum ich bei dem Thema recht emotional werden kann: Ich habe eine Vergangenheit in einem Kloster mit einer SEHR positiven Erfahrung bzgl. gelebten Christentum. Sieben Jahre, in denen ich durchaus auf eine Aufnahme in dem Orden zugesteuert habe, an deren Ende ich mich aber gänzlich von der Kirche abgewendet habe. Jetzt wäre es ja cool, so ne schöne Missbrauchsgeschichte aus dem Hut zu zaubern... wer kann da schon was gegenhalten. Aber nein, im Gegenteil, ich hatte die besten und erfülltesten Jahre meiner Jugend in dem Konvikt. Vor allem habe ich gelebte Kirche kennengelernt, wie sie sein sollte. Bis ich eben im Detail dann plötzlich nicht mehr ins vorgegeben Raster passe und das ganze seine hässliche Fratze zeigt. Eben jeglicher christlicher Gedanke hinter widerlichem Kleingeist zurückstehen muss. Die Enttäuschung ist eben ganz besonders stark, wenn Du Dich emotional involviert hast. Wenn Du Gemeinschaft gefunden zu haben glaubst, aber die Kirche Dich eiskalt davon abschneidet, wenn Du eigentlich Unterstützung bei der Selbstfindung gebraucht hättest. Ein kleines bisschen christlicher Geist hätte gereicht, um einen Menschen weniger aus der Gemeinschaft zu treiben. Heute wäre mir die Kirche nicht mal den Speichel wert, den ich ihr auf die Treppe speien möchte. Und ich trauere um die guten Menschen, von denen ich weiß, dass sie mit der Kirche hadern, aber den Absprung nicht schaffen, sondern sich eben den Anforderungen ergeben, die die Kirche an das "Christsein" stellt.


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