Thema:
Re:Ja mann! flat
Autor: _bla_
Datum:23.11.22 09:28
Antwort auf:Re:Ja mann! von Sven Mittag


>Naja, die Krux ist doch wie folgt: Es ist es eben nicht so. Mal ganz davon abgesehen, dass eine Umstellung von einem Pseudo-staatlichen System über die GKV zu einem rein staatlich geführten Gesundheitswesen pure Utopie ist.
>
>Hier müssten ja über 100.000 Kleinunternehmen verstaatlich werden. Mit komplett verschiedener Gehaltsstruktur, betrieblichen Aufbau, jeder mit seiner eigenen Ausstattung, usw. usf.. Von den initialen Kosten für das Gesundheitssystems mal abgesehen, die Praxen überhaupt wirtschaftlich verträglich zu übernehmen mal ganz abgesehen.


Das müsste ja nicht über Nacht erfolgen und es gibt auch keine Notwendigkeit, das rein staatlich zu organisieren. Unterschiedliche Körperschaften öffentlichen Rechts, so wie man das auch bei den Krankenkassen und vielen Krankenhäusern hat, wäre bspw. eine gute Rechtsform. Man könnte einfach die Kassenzulassungen nach und nach auslaufen lassen und das System langsam umstellen.

>Das Problem dabei ist aber, dass die Arbeitsmotivation eines selbstständigen Arztes mit hohen sechsstelligen Krediten und einer anderen Honorierungsstruktur halt ne vollkommen andere ist als die Motivation eines angestellten Arztes (gerade im staatlichen Gesundheitswesen).
>
>Kleines Beispiel aus eigener Erfahrung. Mein erstes Arbeitsjahr war ich als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni angestellt. Durchschnittlich behandelte ein Uni-Zahnarzt pro 4 Arbeitsstunden zwischen 3-4 Patienten. Ganz zu Beginn wollte ich schneller takten, wurde aber sehr schnell und ziemlich eindeutig von meiner Helferin informiert, dass eine solche Arbeitsgeschwindigkeit vom Team nicht gewünscht sei und ich dies zu unterlassen hätte.


Fast alle Ärzte an den Krankenhäusern sind angestellte Ärzte. Sehr viele von denen arbeiten sehr hart, mit zum Teil extrem langen Arbeitszeiten. Ich glaube du solltest da deine Erfahrung aus dieser etwas seltsamen Gruppe nicht verallgemeinern. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter ist eigentlich auch Forschung+Lehre angesagt und nicht Uni-Zahnarzt.

>In meiner eigenen Praxis behandele ich je nach Umfang der Behandlungen in der gleichen Zeit zwischen 10-30 Patienten. Während ich (und alle meine Kollegen !) an der Uni mit Fixgehalt keine Motivation hatte, auch nur einen Fingerstreich mehr zu machen, ist meine gesamte Arbeit in der Selbstständigkeit auf maximale Geschwindigkeit getrimmt.

Angestellt bedeutet ja nicht Fixgehalt, sondern man kann beim Gehalt selbstverständlich auch die Geschwindigkeit, aber durchaus auch die Qualität berücksichtigen, so wie in vielen anderen Jobs auch. Es ist doch nicht so, das Angestellte zum großen Teil irgendwelche  Faulenzer wären, die nur ihre Stunden absitzen. Obwohl du selber auch als angestellter Arzt auch versucht hast, schnell zu arbeiten.

> Das GKV-System honoriert nicht nach Qualität, sondern einzig nach Geschwindigkeit.

Das PKV-System doch noch viel mehr. Beim GKV-System mit begrenztem Budget könnte man immerhin sagen das das System eine kleine Motivation eingebaut hat, auch nicht zu schnell und damit schlechter zu arbeiten.

>Je mehr Patienten ich behandele, desto mehr verdiene ich. Dies geht bei den GKV-Patienten natürlich prinzipiell auf die Qualität, ist aber halt sehr bewusst gewollt, da der Durchschnittspatient ja Qualität eh nicht beurteilen kann und glücklich und zufrieden ist, wenn er schnell dran kommt und "ihm geholfen wird".

Bei den PKV Patienten ist es aber auch grundsätzlich nichts anderes. Auch dort verdienst du umso mehr Geld umso schneller du arbeitest. Du hast höchstens etwas mehr Angst, den Patienten zu verlieren, wenn du zu schlecht arbeitest. Meine Vorstellung wäre ein System bei dem Ärzte bspw. dann zusätzliches Geld bekommen, wenn sie Erkrankungen wie Krebs überdurchschnittlich früh erkennen. Oder bspw. darauf geschaut wird, wie viele vermeidbare Folgeerkrankungen die Patienten eines Arztes haben, so das Ärzte belohnt werden, die es hinbekommen, das die Compliance ihrer Patienten besonders gut ist. Es macht keinen Sinn, das der Arzt mehr Geld bekommt, der in einer halben Stunde 10 super kurze Beratungsgespräche führt, bei denen die Patienten nicht verstehen, wie und warum sie das Medikament jetzt einnehmen müssen und die dann laufend wiederkommen, weil es mangels richtiger Einnahme nicht funktioniert, während der Arzt der sich 20 Minuten Zeit nimmt, dem Patienten alles richtig erklärt und der dann auch nur selten wiederkommt, weniger Geld bekommt.

>Durch das Mischsystem, was wir in Deutschland haben, haben wir den Vorteil, dass wir eine passable Grundversorgung für die Gesamtbevölkerung haben mit in Relation zu anderen Nationen noch akzeptablen Wartezeiten und Eigenkosten für den Patienten. Und jeder der es sich leisten kann, über die PKV die qualitativ besseren Privatleistungen bekommt. Diese aber durch das PKV-System prinzipiell dem gewillten GKVler auch zur Verfügung stehen. Würde ich nicht die Auslastung durchs PKV-System haben, würde ich bestimmte Leistungen nicht anbieten, weil das Equipment nicht mehr wirtschaftlich in der Anschaffung ist oder mir schlicht die operative Erfahrung für den Eingriff fehlt. Macht halt einen Unterschied, ob ich PKVler regelmäßig die "Premium-Behandlung" angedeihen lassen kann. Oder halt so 1-2 mal im Jahr einen GKVler habe, der theoretisch bereit wäre, sich die Mehrleistung privat auch zu leisten.

Nochmal: Das ist in dieser Form ganz klar ein Zahnmedizinproblem. Bei den restlichen Praxen sieht es eher anders herum aus:
Ohne die 70% des Umsatzes, der von den Kassenpatienten kommt wären die Fixkosten der Praxen meistens nicht bezahlbar. Nicht ohne Grund gibt es nur relativ wenige reine Privatpraxen.

>Bisher hat immerhin noch keine Änderung in der Abrechnung des Gesundheitssystem jemals eine negative Auswirkung auf die Einnahmen der Ärzteschaft gehabt. Vielmehr kam es immer zu abrechnungstechnischen Anpassungen an das neue System.

Das ist doch sogar auch okay. Es geht mir ja auch nicht darum, dem Gesundheitssystem Geld wegzunehmen. Sondern darum, das Geld was im Gesundheitssystem vorhanden ist, sinnvoller zu verteilen und bessere Anreize zu schaffen. Einfach nur auf Geschwindigkeit zu schauen, aber dann per Budget die zu bestrafen, die zu schnell arbeiten macht keinen Sinn. Oder einerseits in Städten eine Überversorgung zu schaffen, aber auf dem Land völlig überlastete Ärzte zu haben, die zudem noch laufend an ihr Budget stoßen. Solche Probleme könnte man ja problemlos lösen und bessere Anreize schaffen. Und sehr viele Leute wollen Arzt werden, können es aber mangels Studienplatz nicht. Oder auch nach den Fachrichtungen schauen, da ist das Geld auch nicht unbedingt sinnvoll verteilt.

>Das leider typische deutsche Problem ist halt, dass wir es als so furchtbar schlimm ansehen, eine Zwei-Klassen-Medizin zu haben. Während dies für unsere ausländischen Mitbürger komplett normal und selbstverständlich ist, geht hier bei vielen der Hutkragen hoch und es ist für die Politik ein perfektes Thema um sich zu profilieren.

Das Problem ist imho nicht das wir eine Zwei-Klassen-Medizin haben, sondern das wir nicht allen Leute nicht die freie Wahl zwischen PKV und GKV ermöglichen und die PKV künstlich dadurch bevorzugen, das bei der GKV eine Sozialleistung durch die GKV Mitglieder mit überdurchschnittlichen Gehältern finanziert wird und die PKV Mitglieder dort nicht mitmachen und die PKVler überdurchschnittlich gesund sind, werden sie chronisch krank, fallen sie oftmals in die GKV zurück.
Die behauptete Kreuzfinanzierung ist Quatsch. Das Geld, was die Privatpatienten in die Praxen bringen, wird ja zu großen Teilen in den besseren Wohngegenden ausgegeben, die Praxis im sozialen Brennpunkt, hat praktisch keinerlei Einnahmen durch PKVler.
Das faire System wäre:
Jeder muss GKV versichert sein, jeder der möchte darf eine Zusatzversicherung abschließen, völlig unabhängig von Beitragsbemessungsgrenzen und vernünftigerweise auch wie in die USA oder der Schweiz: Unabhängig von Vorerkrankungen.

>Und klar ist es heftig, einem 65jährigen Tumorpatienten ehrlich zu sagen: "Tut mir schrecklich leid, aber deine Behandlung würde uns jetzt 100.000 Euro kosten und die Erfolgsquote liegt bei 50 %.

Das Problem bei Tumorerkrankungen ist doch eher, das dort oftmals Behandlungen durchgeführt werden, deren "Erfolgsquote" im Sinne von Heilung bei 0% liegt, sondern es nur um eine kurze Verlängerung der Lebenszeit geht und dem Patienten das aber nicht ausreichend klar vermittelt worden ist und er nur deshalb mitmacht, weil er noch auf Heilung hofft.

>Dies ist es uns leider als Gesellschaft nicht mehr wert. Regel bitte deine Angelegenheiten oder schau, dass du das Geld selbst auftreibst!" - Unsere deutsche Lösung finde ich aber nicht besser, dem GKV-Patienten einfach zu sagen: "Es tut mir leid, es ist leider nicht mehr behandelbar!", nur um einen Raum weiter dem PKV-Patienten mit dem gleichen Befund zu sagen: "Okay, sie haben zwar nur einen 50:50-Chance, aber wir würden gerne eine AK-Therapie bei Ihnen versuchen." Zumal es durchaus ein paar Patienten geben wird, die gerne die 100.000 Euro aus der eigenen Tasche bezahlen würden, für die geringe Chance zu überleben. Im Regelfall aber als GKVler diesbezüglich gar nicht erst aufgeklärt werden, da "nicht Richtlinienkonform".

Dafür hätte ich gerne mal eine Beleg für eine Tumortherapie deren Erfolgswahrscheinlich wissenschaftlich gesichert derartig hoch liegt, aber die nicht bezahlt wird. Ich halte das für großen Unsinn. Ja, es gibt Sachen, die nicht bezahlt werden, aber deren Erfolgsaussichten sind auch eher mau und nicht wirklich gut wissenschaftlich belegt.


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