Thema:
Re:Heute beim Fahrradfahren flat
Autor: token
Datum:28.03.24 11:12
Antwort auf:Re:Heute beim Fahrradfahren von thestraightedge

>Wenn die Energie und das Engagement, die nun gegen kiffende Väter freigesetzt werden, jemals gegen saufende Väter freigesetzt worden wäre, wäre unsere Gesellschaft schon einen Schritt weiter.

Und an dieser Stelle bitte auch keine Klischees bedienen und irgendwie Väter herausstellen, einer Droge ist das Geschlecht des Süchtigen ziemlich egal.

Ich bin herzlich offen für ein aufrichtiges Gespräch über Drogen, welche es gibt, Aufklärung über die jeweiligen Gefahren und Krankheitsbilder, familiäre Auswirkungen, gesellschaftliche Auswirkungen, eine angemessene Regulatorik und den ganzen anderen Kladderadatsch.

Aber nicht diese verlogene polemische uninformierte anmaßende beleidigende selbstherrliche ignorante heuchlerische und geltungssüchtige Dreckscheiße die man punktuell hier in diesem Thread und von Teilen der Politik samt Gesellschaftsteilen erlebt.

Würde man so einen Diskurs tatsächlich mal offen, objektiv ohne das Kleinreden der persönlichen Chose-your-poison-Wahl, sachgerecht, ohne irgendwelche Schwurbeleien beim Blick auf Statistiken und den Konsens von Drogenexperten bemühen und nicht die für einen passende Einzelmeinungen führen, dann käme man nämlich an so einigen Baustellen vorbei.

Nehmen wir mal die Baustelle Alkohol. Bis heute vermisse ich eine angemessene Aufklärung und sehe von ausgerechnet den Teilen der Politik die in CanG den Untergang des Abendlandes sehen bei Alkohol, dass damit locker flockiger Wahlkampf geführt und man sich dann auch mit Zapffesten als der bürgerliche Kumpel zum Anfassen inszeniert.

Bis heute vermisse ich eine angemessene Transparenz und sehe immer und immer wieder dass bspw. bei Nachrichten zu Drogentoten in Deutschland ein spezifischer Balken in dieser Statistik gerne einfach komplett fehlt. Und würde man diesen Einblenden, dann würde sich so mancher wundern wo die Mikropenisse sind und was davon der Totschläger ist. Und als Treppenwitz, dass man ausgerechnet bei der Horrordroge um die es hier geht wirklich sehr vogelwilde Zusammenhangsargumentationen bemühen muss um zumindest von der Null wegzukommen und den einstelligen Bereich zu erreichen.

Dabei geht es mir aber auch nicht um Gegenüberstellungen, sondern um eine Schieflage die ein aufrichtiger, wissenschaftsbasierter und konstruktiv lösungsorientierter Diskurs über angemessene Drogenpolitik in einer freiheitlich liberalen demokratischen Gesellschaft als Fundament bräuchte um überhaupt in oben zitierter Anspruchshaltung geführt werden zu können.

Als Jemand der den Löwenanteil seiner Kindheit in einem Haushalt mit einer alleinerziehenden Mutter die unter Alkoholsucht schweren Grades litt, erzähle ich gerne und nicht zum ersten Mal, was da wirklich passiert.

Als Aufsatzpunkt kann man da gerne das Auflärungsblatt was Lord Chaos verlinkt hat hernehmen für eine MGMT-Summary der Erlebniswelt von Kindern von Alkoholkranken:
[https://nacoa.de/infos/fakten/kinder-von-alkoholikern]

Das zu lesen hat auch bei mir wieder einiges aufgewühlt und aus dem Bewusstseinskeller rausgekehrt, auch weil das ein Fucking Bingozettel ist wo alles, einfach ALLES was da steht angekringelt werden kann. Und das ist halt auch etwas was du erst bei der Aufarbeitung deiner Wunden als Erwachsener verstehen lernst, du denkst als Kind da passiere dir etwas sehr individuelles. Und dann merkst du halt irgendwann, das ist nicht etwas individuelles, das ist etwas wo in Deutschland fucking MILLIONEN Kinder  sowas erleben und wo das bis heute in gesellschaftlicher Aufklärungsarbeit einfach unter den Teppich gekehrt wird. Lasst uns bitte über sowas nicht reden. Unangenehm.

So, und wenn man das gelesen hat, dann mag man sich schon denken, uff, ist aber noch nicht mal in der Nähe dessen was das konkret im Erlebten bedeutet. Was bedeutet das, ein Kind fühlt sich für diese Verantwortung und Schuld, wird zum Manager des Alkoholkranken und übernimmt Aufgaben im Haushalt die nicht in den Verantwortungsbereich eines Kindes fallen sollten?

In meinem Fall war halt nur noch ein Elternteil da und nicht zwei Säufer oder ein Säufer und ein Co-Abhängiger, sondern ich und mein vier Jahre jüngerer Bruder. Und neben so Lappalien dass man kocht, putzt, bei Hausaufgaben hiflt, Mutti verarztet und zu zügeln versucht und vor lauter Überfrachtung in der Schule abschmiert während die Schulkameraden das tun was Kinder sollten, nämlich sich die Knie beim Skateboarden aufzuschlagen. Und dabei auch noch die Überzeugung hat, das ist alles meine Schuld, ich bin verantwortlich und ich bin ein Versager weil ich das hier einfach nicht schaffe.    

Verantwortung zu übernehmen hieß für mich bspw. auch dass ich so gut ich konnte versucht habe meinen kleinen Bruder in ein Heile-Welt-Aquarium zu packen und gewisse Dramen die sich da abgespielt haben vor ihm zu verstecken. Ein stetig wiederkehrendes Drama war hierbei bspw. wenn sich meine Mutter Abends derart abgeschossen hat dass sie in ein Schlafdelirium fiel aus dem sie auch mit Wasser ins Gesicht oder Ohrfeigen nicht mehr rauszuholen war, und dann die Alpträume kamen. Da hat sie einfach immer nur ein Wort geschrien: Nein.

Nein! Neeeein! Nein! Nein! Und das nicht für ein oder zwei Minuten, auch wenn ich mir nicht zutraue heute noch abzuschätzen wie lange diese Schreiphasen wirklich gingen. Wenn ich also in meinem Kinderzimmer von diesen Schreien geweckt wurde, bin ich wie von der Tarantel gestochen ins Schlafzimmer gestürzt, zu ihr ins Bett gekrochen und hab ihr heulend den Mund zugehalten um die Schreie zu dämmen in der Hoffnung mein Bruder kriegt das nicht mit und natürlich auch immenser Scham on top dass es die Nachbarn hören.

Das wurde auch zu einer schrecklichen Routine da immer wiederkehrendes Muster wo du am nächsten Morgen komplett kaputt bist, weil halbe Nacht nicht gepennt, und so zur Schule gehst. Auch an sowas liegt dann auch, dass so ein Erlebnisparadies nicht irgendwann vorbei ist, sondern auch fundamental die Vorrausetzung verändert mit denen du ins echte Leben starten kannst, zu einem Problem werden kann das zu einer Schleife wird die über Generationen reicht. Ganz zu schweigen von den Narben die das auf deiner Seele hinterlässt. Man kann lernen das zu verarbeiten, aber weggehen tut sowas nie.

Auch noch ein schöner Punkt. Hilfe holen. Tja. Da wären wir beim Thema Transparenz darüber dass sowas überhaupt passiert einerseits, und dann aber auch an einem kritischen Punkt warum man selbst wenn man es wüsste nicht unberechtigte Sorgen haben kann diesen Schritt zu gehen. Ich wurde bspw. recht religiös aufgezogen, man kann gerne über die Menschen lachen die bspw. das alte Testament wörtlich nehmen, aber als Kind ist das halt Fakt, so selbstverständlich wie es für dich ist dass die Erde um die Sonne kreist, so selbstverständlich war für mich dass ich von Adam und Eva abstamme und das halt Vollhonks waren deren Erbschuld man aufarbeiten müsse. Und tatsächlich war ein Versuch sich irgendwo anzuvertrauen mit dem Ratschlag versehen worden, ich müsse nur ganz doll beten und dann würde alles wieder gut. Also hab ich mir die Seele aus dem Leib gebetet. Und da das nicht erhört wurde war dann auch klar, das passiert auch darum weil ich ein schlechter Mensch bin und all das ist auch eine Strafe für meine Sünden.

Und nächste Haltestelle für Problematik Hilfe holen, Jugendamt. Das kam natürlich auch irgendwann vorbei weil wohl irgendjemand was gesagt hat oder so, und dann wurden wir terminlich gescreent. Ich glaube es kostet nicht viel Fantasie um sich vorzustellen wie wir damit als Familie umgegangen sind. Natürlich hatte ich tierisch Schiss und ausreichendes Bewusstsein dafür dass das eine Art "Bedrohungslage" ist an deren Ende ich und mein Bruder im Kinderheim landen könnten. Ich habe meinem Bruder mit Inbrunst eingebläut was er alles nicht erzählen soll, welche Lügen wir zu erzählen haben, dass es am besten wäre so wenig wie nur möglich zu sagen und uns das reden zu überlassen und dass wenn wir da einen Fehler machen im Kinderheim landen werden.

Es wurde geputzt und aufgeräumt bis du wirklich aus jeder Rotzecke hättest essen können, nichts wurde ausgelassen, eine polnische Putzkolonne mit Sagrotanmuttis hätte keinen besseren Job gemacht. Es wurde ein Festmahl gekocht. Es wurde in Rollenspielen auch geübt was gefragt werden könnte und was gesagt werden müsste und für uns hatten wir dann auch als Vorbild das was in den US-Shows auf RTL Plus als Heile Welt Familie dargestellt wurde, das war die Rolle die wir einstudierten. Und auch wenn ich mir da vor Sorge im Kinderheim landen zu können in die Hosen geschissen hab, war es ironischerweise auch ein seltener und wundervoller Moment des Glücks, weil ich in diesem kurzen Augenblick, auch wenn alles nur Fassade war, das hatte, was ich mir als Kind gewünscht habe. Eine Familie wie man sie sich eigentlich vorstellt.

Und wir haben unsere Rolle gut gespielt und erfolgreich abgewimmelt, und kaum waren die Sozialarbeiter weg ist Mutti quasi instant zur Tür rausgestürzt und kam nachts sturzbesoffenen wieder heim, hat wie ein Schlosshund geheult und so lange "Es tut mir leid. Es tut mir leid!" wiederholt bis sie vor Erschöpfung in den Schlaf fiel.

Und noch einen Satz aus dem Aufklärungsblatt würde ich auch gerne im Hinblick was das eigentlich bedeutet beleuchten. "Die alkoholkranken Eltern lieben ihre Kinder."
Es ist sehr einfach von Außen, wenn man sowas liest, das Elternteil als eine Art Monster zu begreifen. Es ist aber halt auch falsch. Ich habe heute wieder ein normales Verhältnis zu meiner Mutter aus Gründen. Trotz alles Erlebten. Weil ich nun auch verstehe was Sucht eigentlich ist. Ich bin stolz auf sie dass sie den Kampf gegen die Sucht gewonnen hat, sich ins Leben zurück gekämpft hat, in die Arbeitswelt gekämpft hat, wieder einen anständigen und aufrichtigen Lebenspartner gefunden hat der einfach nur "normal" ist, dass nach dem der Entzug endlich mal geklappt hatte, auch kein Rückfall mehr auftrat, und spätestens in dem Moment wo ich ihr geradeheraus sagte, wir müssen darüber was da alles passiert sprechen, und da wirklich schonungslos ehrlich war, aber eben auch mit einem "Ich verzeihe dir." abschloss, auch sah was das bei ihr für eine unbeherrschbare Lawine von Emotionen ausgelöst hat, und dass da kein Monster vor dir sitzt, sondern jemand der die gleichen Wunden wie du selbst hast, mit einem on top kaum vorstellbaren Rucksack aus Schuldgefühlen, Bedauern und Scham.

Und ich erlaube mir beim Thema "Liebe" auch noch einen Ausritt zu eben diesem Komplex "Entzug". Was das eigentlich heißt, wie sowas ausschaut. Was sich da abspielt. Denn natürlich gab es da auch mehrere Anläufe das hinzukriegen die ich dann begleitet hab.

Und ich finde das was in Trainspotting beim Heroin-Entzug inszeniert wird, ist geradezu erschreckend nah dran. Es ist unglaublich heftige Scheiße. Wie sich das sukzessive steigert von Unruhe zu Schweißausbrüchen zu Schmerzen, Verzweiflung, Schreien, Schreien, Schreien!, und du am Peak einfach etwas vor dir hast was nichts mehr mit einem Menschen zu tun hat, das man im Grunde eigentlich nur noch ans Bett fesseln könnte, ein Tier, das in seiner gesamtheitlichen Existenz nur noch ein einziges Motiv hat und abseits dieses Motivs ist da nichts mehr das noch eine Rolle spielt, der Schluck der macht dass das aufhört, und sich gar lieber umzubringen als das weiter zu ertragen.

Und der traurige Treppenwitz ist, sowas wie da oben ist immer noch eine Lightversion dieser Schicksale, wo es natürlich auch Schicksale gibt die deutlich lighter sind, aber zumindest wurde mir eine Sache in diesem Drama erspart die auch ein häufiges Begleitsymptom sind. Nämlich der unkontrollierte Gewaltausbruch im Suff. Und da kenne ich jemanden der auch sowas erlebt hat, aber eben auch mit dieser Gewalt, und da will ich dann auch ich nicht mehr tauschen. Das sind keine Disziplinarmaßnahmen mit Gürtel auf den Arsch, das sind Angriffe mit Fäusten und Gegenständen die für ein Kind auch lebensgefährlich enden können. Und am Ende dieser Geschichte stand dann auch niemand der den Entzug geschafft hat und ins Leben zurückfand, sondern sich schlicht und ergreifend totgesoffen hat.


So, ich schließ jetzt mal ab damit, könnte aber gut und gerne auch noch ein ganzes Buch darüber füllen was sowas eigentlich heißt und was für tolle Dinge man da erlebt.


Nur eines noch, und zwar an die ganzen engagierten Sorgenbürger und Kinderschützer und entrüsteten Politiker. Stände, bei den Argumenten die ihr da bemüht, auch nur ein Mü an Aufrichtigkeit hinter, dann würden wir hier komplett andere Diskussionen in Deutschland führen. Ihr scheißt doch drauf. Das Recht auf Rausch wird selbst unreflektiert in Anspruch genommen, und bei diesem Rausch der Aufrichtigen und Tüchtigen alles Unangenehme was damit zusammenhängt noch bewusst und gezielt unter den Teppich gekehrt statt auch nur zu versuchen zu helfen.

Ihr alle seid es doch die auch darüber hinaus eine degenarative und kurzfristig wirtschaftlich orientierte Familienpolitik betrieben haben und goutierten. Wo war die Baufreude bei Spielplätzen, als ich aufgewachsen bin wurden eingezäunte Spielparadiese gar auch einfach abgeschlossen, nicht mal zum Abriss wurde Geld in die Hand genommen, aber wenn man abschließt muss man da wo die Unfallgefahr herkommt halt auch nicht sanieren. Warum sind die Klassen trotz immer weniger Kinder immer größer geworden. Warum haben ALLE Pädagogen die ich kenne wie bekloppt jahrelang nach einem Job gesucht haben sich von kurzfristigen Stellvertrer-Jobs bei Babyurlaub oder sowas hangeln müssen während aus der Politzentrale ständig das Bild gezeichnet diese Fachkräfte gebe es halt gar nicht und das sei der Grund, obwohl es sie eben doch gab, nur eben nicht das Budget diese auch einzustellen. Warum wurden Jugenzentren die Anlaufstellen in Problemvierteln waren noch und nöcher geschlossen? Warum warum warum? Wo ist da eure "aufrichtige" Sorge um die euch so wichtigen Kinder gewesen?

Und wo sind denn eure Jugendschutzsorgen aktuell beim Thema Energy-Drink. Was sagen denn eure persönlichen Experten wenn es um Suchtpotenziale geht, warum diese Zahl bei den Energydrinks größer ist als beim #Versagerkraut, ja was ist das denn? Was glaubt ihr denn was der feine Herr Mateschitz, Gott habe diesen Supermenschen selig, instant begriffen hat auf seinem Thailand-Urlaub, was glaubt ihr was es genau ist was er da geschäftsmännisch verstand und warum mit so einer Plörre überhaupt Milliarden verdient werden können.

Wo ist denn eure regulatorische Sorge wenn es um sowas geht, eine Szene die ganz genau versteht was sie da verkauft und in vollem Bewusstsein sein Marketing ganz gezielt auf Kinder und Jugendliche aufsetzt mit seinen Sponsorings von Gamingevents, massiver Präsenz bei Influencern mit jungem Publikum, wie das Packungsdesign ist, warum man die Grenzwerte bei Substanzen an die hinterste erlaubte Ecke reinspritzt und so weiter und so fort. Wie kann es sein dass fucking Discounter-Konzerne, deren Geschäft es eigentlich nicht ist sich Gedanken über Jugendschutz zu machen sondern Geld zu verdienen und hierbei die regulatorischen Vorgaben zu erfüllen, von sich aus eine Alterskontrolle bei Energy-Drinks eingeführt haben, weil sie schon selbst denken, Alter, das können wir nicht verantworten das weiter an Kinder zu verkaufen, während der 12jährige vollkommen legal und bis heute unreguliert zum nächsten Kiosk laufen kann um das einzustecken, ohne jedwede Kontrolle, Aufklärung, Regulation, fucking gar nichts. Wo sind da eure Sorgen bei den Themen die wirklich akut und messbar schief gehen, häh?

Ich persönlich denke, Drogen und was damit zusammenhängt sind ein äußerst wichtiger Themenkomplex wo es durchaus sehr sehr sinnhaft wäre das mal vernünftig aufzuarbeiten. Und da bin ich auch als jemand, der eben nicht denkt, alles muss verbietet werden, auch nicht über Alkohol so denke und auch nicht über andere Dinge, zum Diskurs bereit. Dann aber bitte auch aufrichtig und auf Augenhöhe, und durchaus mit der Bereitschaft bei guten und wissenschaftlich begründeten Argumenten den eigenen Standpunkt zu überdenken.

Aber dieser heuchlerische Zirkus der aktuell rund um CanG stattfindet?
Diese verlogene desinformierte anmaßende beleidigende selbstherrliche dumme Scheiße die da aktuell abgezogen wird?
Nein Danke. Dieser populistische Dreckscheiß lässt wirklich alles vermissen was ein zivilisiertes Gespräch als Grundvoraussetzung braucht.


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