Thema:
Re:Wir haben ein Vollzugsproblem flat
Autor: Lord Chaos
Datum:26.01.23 10:51
Antwort auf:Re:Wir haben ein Vollzugsproblem von Telemesse

>>1. siehe Matze. Anscheinend gab es ja keine rechtskräftige Verurteilung, und auf Grundlage eines Verdachtes kannst du nicht abschieben.
>>
>Wie oft hattest du denn in den letzten 7 Jahren mit der Polizei zu tun? Bei 12 Delikten (oder Vorwürfen) erscheint es da schon etwas mehr als einen bloßen Verdacht zu geben. Zumal man bei der Häufigkeit sicher auch nicht davon sprechen kann das da jemand versehentlich zum Ziel von Ermittlungen geworden ist.


Du, letzten Endes ist er nicht verurteilt worden und wir sind noch lange nicht an dem Punkt, an dem jemand als schuldig gilt, weil gegen ihn oft erfolglos ermittelt wurde.

>>2. selbst wenn es eine rechtskräftige Verurteilung gegeben hätte, wohin willst du einen staatenlosen Palästinenser abschieben?

>Die Frage ist doch ob das überhaupt stimmt. Das kann ja durchaus auch ein tauglicher Trick sein um einer Abschiebung zu entgehen.

Das mag sein, aber dennoch kannst du dann noch lange nicht „auf Verdacht“ abschieben. Und was gerne auch vergessen wird - in vielen Flüchtlingsländern sind Dinge wie Geburtsurkunden oder Pässe keine Selbstverständlichkeit wie bei uns.

>>Aus diversen Presseberichten ist ja auch zu entnehmen, dass der Täter bei der Verhaftung einen sehr verwirrten Eindruck gemacht hat, es kann also IMHO gut sein, dass der Täter psychisch gestört war und eher in die Forensik als in U-Haft gehört hätte.
>
>Wenn dem so wäre darf man aber doch fragen wieso der dann aus der U-Haft einfach so entlassen wird und nicht in eine medizinische Betreuung überführt wurde.


Aus meiner früheren Erfahrung heraus - um eine geistige Störung festzustellen braucht es einen Gutachter und der muss auch erst einmal aktiv eingeschalten werden, bzw. oft mit einer Zwangseinweisung verbunden, da es mehr als ein Gespräch idR braucht, um das wirklich valide feststellen zu können.
Das passiert AFAIK wirklich nur in Situationen, in denen wirklich ersichtlich ist, dass Jemand psychisch krank ist und dies für einen Laien festzustellen, ist nicht so einfach., bzw liegen die Hürden für eine Zwangseinweisung auch extrem hoch - da muss idR schon eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegen.

Ganz zu schweigen davon, dass es Zeit und Geld kostet, deshalb ist das Phänomen auch nicht neu - was denkst du, wieviel psychisch kranke Obdachlose durchs Raster deswegen fallen, also einfach nur ein Platzverbot bekommen oder eine Nacht in der Ausnüchterungszelle verbringen müssen, selbst wenn sie wir reden? Auch hier wieder, solange die sich und andere nicht gefährden, kannst du die auch Verdacht nicht in die Psychatrie stecken.

Die psychologische Betreuung von Flüchtlingen ist ein Riesenproblem. Schätzungen gehen davon aus, dass jeder 2. erwachsene Flüchtling unter PTBS leiden, und viele auch akut selbstmordgefährdet sind, von anderen Erkrankungen mal ganz abgesehen.
Bei Jugendlichen sind diese Zahlen nochmal höher.
Aber - der Gesetzgeber sieht  vor, dass Flüchtlinge in den ersten 15 Monaten nur bei akuten Erkrankungen medizinische Hilfe bekommen, darunter fallen Psychotherapien oder Aufenthalte in der Psychosomatik nicht drunter, es gibt zwar Ausnahmeregelungen, diese sind aber extrem langwierig und dauern oft Monate - und gelten idR oft auch nur bei Kindern. Was das für ein Affentanz ist, eine entsprechende Ausnahme durchzuboxen, habe ich vom 2015-2017 in meiner Zeit bei der Flüxhtlingshilfe live erleben dürfen.

Das heißt, du hast quasi hoch traumatisierte Menschen, die 15 Monate nicht behandelt werden und auch oft so untergebracht sind oder in Lebenssituationen sind, dass es psychische Erkrankungen nochmal triggert.

Und selbst nach 15 Monaten schaut es düster aus - diejenigen, die das Glück hatten, doch eine Betreuung im Rahmen der  Psychosozialen Zentren der BAfF behandelt zu werden, dürfen dort nicht mehr behandelt werden, weil die Therapeuten dort keinen Kassensitz haben, dasselbe gilt für eine pro Bono Behandlung.

Man hätte zwar den Anspriuch auf eine Therapie, aber auch hier - es ist schon für Jemand, der hier aufgewachsen und die Sprache beherrscht ein Höllenritt, einen Therapieplatz zu finden, und jetzt stell dir mal vor, wie das für Jemanden ist, der die Sprache nicht wirklich beherrscht, zumal Dolmetscherkosten nicht übernommen werden und es auch nicht viele Therapeuten und Ärzte gibt, die über entsprechende Fremdsprachenkenntnisse verfügen. Das heißt, Flüchtlingen bleibt oft nur die Hoffnung auf einen ehrenamtlichen oder spendenfinanzierten Dolmetscher, wovon es auch nicht wirklich viele gibt, ganz zu schweigen von dem damit verbundenen Zeitaufwand für den Dolmetscher.

Das wurde von der Bundespsychotherapeutenkammer auch mehrfach schon scharf kritisiert, aber dennoch wurden Dinge wie Kostenübernahme von Dolmetscherkosten und Weiterbehandlung durch ein Psychosoziales Zentrum nicht wie eigentlich angedacht und im Referentenentwurf zum neuen Integrationsgesetz umgesetzt, sondern gestrichen.

Und wenn ich mir überlege, dass gerade mal 10% der Flüchtlinge, die eine psychologische Betreuung brauchen, diese auch bekommen, dann stellen sich mir die Nackenhaare hoch, weil es Mittel und langfristig die Konsequenz hat, dass diese Menschen sich selbst und im allerschlimmsten Fall auch anderen schaden.

Wenn du also mich fragst, was helfen würde - nicht der kruden Argumentationskette von Rechtsaußen zu folgen und einen ganzen Kulturkreis oder Gruppe über den Kamm zu scheren, sondern die Ursachen anzupacken, genau hinzuschauen, auch wenn es Geld kostet. Das ist IMHO eine deutlich bessere Lösung, als Flüchtlinge sich selbst zu überlassen nach dem Motto „wieso? Dach über den Kopf und Essen gibt es auch, das reicht“.


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