Thema:
Trigger warning, lang flat
Autor: JohnSimonRitchie
Datum:15.11.22 12:50
Antwort auf:Umwelt, Bewusstsein, Klima: Wir sind am Arsch #2 von Bandit

Gestern war ich im hiesigen Galeria Kaufhof, ein Klotzbau aus den 60er Jahren – wie die Dinge aktuell stehen, ist dieser schon sehr bald dem Untergang geweiht. Erster Vorbote dessen ist der Auszug von Edeka, der dort seit vielen Jahren im UG eingemietet ist und heute um 14h endgültig und für immer seine Pforten schliesst.

Ich fühle mich mit dem Haus und auch dem Supermarkt emotional verbunden, dort war ich schon vor Jahrzehnten mit meiner Oma einkaufen und zusammen mit Karstadt war Horten (so hiess die Bude davor) und dann eben später Kaufhof der Inbegriff von "Innenstadt".

Jedenfalls waren meine Frau und ich gestern um 19.30h noch mal dort und Tschüss zu sagen. Der Anblick des Ladens war wirklich kläglich, 99% der Regale waren bereits leer, Kühltheken und überflüssige Beleuchtung ausgeschaltet. Vorhanden waren noch einige Konserven, ein paar Spirituosen und Gewürze. Die Tage davor war es ähnlich wie mir ein Kollege erzählte, es gab nichts mehr groß zu kaufen, aber der Laden wurde dennoch täglich bin 20h offen gehalten. Warum? Keine Ahnung. Finanziell Sinn machte das jedenfalls auf keinen Fall.

Ich wählte aus dem spärlichen Sortiment eine Flasche Ramazotti Menta, meine Frau entschied sich für die letzte Dose pürierte Tomaten. Ausser uns war niemand im Laden, wir gingen zur Kasse und legten die karge Ausbeute aufs Band. An der Kasse sass eine ältere Dame - eine Handvoll Jahre vor der Rente - die schon seit vielen Jahren ihren Dienst dort verrichtet und mit der ich ab und an auch schon ein paar Worte gewechselt habe. Ich hatte sie zuvor schon vom Gewürzregal beobachtet und sie sass mit gesenktem Kopf vor der Kasse, wahrscheinlich der Sinnlosigkeit des ihr auferlegten Tuns vollumfänglich bewusst.

Sie sah auch von nahem den Umständen entsprechend unglücklich aus und wir haben sie mit ein paar aufbauenden und tröstenden Worten bedacht, was sich sichtlich gerührt hat. Sie sagte, sie und alle ihre Kolleginnen hätten schon neue Jobs gefunden, allerdings teils zu schlechteren Bedingungen was Arbeitszeiten und Bezahlung beträfe. Edeka hätte die Kündigung ausgesprochen und danach nie wieder ein Wort mit irgendwem in der Belegschaft gewechselt. Kein "Danke", kein "wir gucken mal, ob wir sie irgendwo unterbringen können", nichts.

Wie gesagt, wir haben versucht ihr mit ein paar freundlichen Worten die Situation mindestens für diesen Moment zu erleichtern.

Auf dem Wag nach Hause war ich betrübt, wegen der Schliessung aber vor allem wegen der Verkäuferin. Sie tat mir leid, weil sie nach all den Jahren so behandelt wird und  sich trotz allem einen neuen Job gesucht hat, der noch beschissener ist. Und plötzlich kam mir der Maniac Umwelt-Thread in den Sinn. Keine Ahnung warum, er ploppte einfach so rein.

Es kam mir der Gedanke, was man ihr auch hätte sagen können. "Du alte Hexe hast diesen Planeten an die Wand gefahren und anstatt Dich selbstsüchtig in eine neue prekäre Beschäftigung zu retten, solltest Du Dich zur Wiedergutmachung den Rest Deiner Tage auf die Strasse kleben." Bei einem alten weissen Mann hätte das natürlich besser gepasst, aber die Alte hat ja auch geaast mit allem, oder?

Und dann habe ich zuhause lange über mich nachgedacht, was habe ich dazu beigetragen, das das Klima verschlechtert hat. Zum einen bin ich zufällig in Deutschland geboren. Dadurch habe ich zeitlebens den hiesigen Lebensstandard gelebt, wenn auch auf kleiner Flamme, aber dazu gleich mehr. Ich habe geheizt, wenn es kalt war, wenn ich Hunger hatte habe ich gegessen und wenn es dunkel wurde habe ich das Licht angeschaltet. Das macht mich, der ich jetzt alt und weiss bin, ja schon mal zur perfekten Zielscheibe. Hier möchte ich erwähnen, das ich zeitlebens SPD oder Grüne gewählt habe, das könnte mir etwas moralische Entlastung verschaffen.

Meine Eltern haben sich scheiden lassen als ich sechs Jahre alt war. Meine Mutter war dann alleinerziehend und wir haben in einer nicht sonderlich großen Wohnung gewohnt, aber es war alles da was wir brauchten und wir haben immer versucht das beste aus allem zu machen. Meine Mutter war voll berufstätig, dennoch konnten wir keine großen Sprünge machen aber das war OK. Gespielt habe ich als Kind vor allem mit Lego, nicht mit 800 Euro Sets die aus China um die halbe Welt geflogen werden (bei Lego ist das scheinbar für niemanden ein Problem), sondern eine gemischte Kiste in der die meisten Teile vom älteren Sohn einer Freundin meiner Mutter waren. Ich hatte einige Matchbox-Autos, made in China und Hong Kong, diese Worte haben sich mir in mein Bewusstsein eingebrannt. Dann habe ich mit 5 Mark meine erste Star Wars Figur gekauft, Darth Vader. Das war kurz nachdem der erste SE Film in Deutschland gezeigt wurde. Ich habe ihn behandelt wie ein Heiligtum.

Geht ja noch, kann man denken. Keine Drohnen, keine ferngesteuerten Autos, keine Nerf-Guns, keine Computerspiele, keine Polyesterkostüme zu Halloween ... nichts dergleichen. Dennoch muss ich bis dahin ja schon ein Klimakiller gewesen sein, oder wann habe ich damit angefangen?

Irgendwann hatte ich die Schule fertig, habe Zivildienst im Krankenhaus gemacht. Mitte der 80er bin ich in frühen Jahren zum Leidwesen meiner Mutter mit Post Punk und New Wave sozialisiert, was sich nicht nur auf meinen Musikgeschmack sondern auch auf mein Konsumverhalten ausgewirkt hat. Ich hatte nicht viel Kohle, H&M und diese ganzen Chinabuden gab es noch nicht (das entlastet mich doch, oder? Oder???), da musste man halt kreativ sein. So habe ich früh den Weg in second Hand Shops gefunden und habe mich dementsprechend gekleidet. Ich hatte meistens schwarze Anzüge an, von meiner Oma mehr oder weniger auf meinen Körperbau umgeschneidert und wasserstoffblonde Haare. Einen Regenmantel der Marke "Ninoflex" hatte ich noch, Made in Germany, der second Hand aus einem Beerdigungsinstitut stammte. Das hatte nicht nur Stil, sondern auch eine gewisse Credibility.

Mit 17 habe ich aufgehört Fleisch zu essen, von heute auf morgen. Auch kein Fisch und tierische Produkte mehr. Heute ist das leicht, man kann ja sogar den Scheiss bei Burger King weiter fressen und auf Vegi machen. Und man kann jammern, das es nicht fleischig genug schmeckt. Gab es damals nicht. Es gab nur Tartex im Reformhaus und sündhaft teure "Würste", die absolut abscheulich schmeckten. Zwischenzeitlich war ich Vegetarier, weil es wirklich ausser Obst und Gemüse nix zu fressen gab, vor allem wenn man mal auswärts essen wollte. Vegane Pizza ... hahahahaha. Verpiss Dich. Heute bin ich wieder zu 95% vegan unterwegs, ab und zu gönne ich mir aber doch mal eine "richtige" Pizza.

Dann habe ich mein Studium aufgenommen und jeden Wochentag nachmittags nach den Vorlesungen sozialversicherungspflichtig gearbeitet. Jeden verfickten Tag, teilweise auch am Wochenende. Ich habe weder der Allgemeinheit noch sonst wem auf der Tasche gelegen sondern meinen ganzen Scheiss selbst bezahlt. In erste Line floss das Geld in Kleinstwohnungen (ausstaffiert mit second Hand Möbeln, einer Matratze auf dem Boden und einer Kleiderstange) in denen ich mich Nachts "aufbewahrt" habe damit ich am anderen Tag wieder mindestens 12 Stunden funktioniere. Große Hobbys hatte ich ausser Skateboarding, Musik und Kino nicht, zumal ich auch gar keine Zeit für mehr hatte. Wo genau habe ich das Klima bis zu diesem Zeitpunkt kaputt gemacht, der nächsten Generation jedewede Perspektive geraubt ausser durch beine blosse Anwesenheit? Sag mal.

Ein Auto hatte ich erst, als ich so um die 35 war, ein Dienstwagen, den ich maximal zwei Jahre hatte. Ein kleiner Luxus, den ich mir hart erarbeitet habe und für den ich mir jeden Tag 10-12 Stunden den Rücken kaputt gesessen habe. Ich kam schneller und entspannter zur Arbeit und war nicht mehr sechs mal im Jahr erkältet oder schlimmeres, was ja den steten Dank für den eifrigen Bahnfahrer darstellt. Die Rotznase als Medaille der klimagerechten Beförderung. Trage sie mit stolz und möglichst ohne Maske. Damit war es – wie erwähnt – dann nach zwei Jahren vorbei und ich hatte für sechs oder sieben Jahre keine Auto mehr.

Jetzt mal ein Sprung zur Gegenwart. Meine Neigung zu second Hand habe ich immer noch. Unsere unanständig große Wohnung ist unser maximaler Luxus, auch hier haben wir viele alte oder aufgearbeitete Möbel. Wir sind ewig nicht geflogen, haben dieses Jahr eine Woche Urlaub in Belgien am Meer gemacht, letztes Jahr gar keinen, davor auch nicht. Wir haben ein Auto mit dem wir im Jahr mit Ach und Krach 5000km fahren. Die fahren wir dann auch nicht um zu prassen und representen, sondern weil es schlicht erforderlich ist. There you have it, Du Umweltsau.

Auch heute kaufe ich wenn es geht second Hand Klamotten. Ebay Kleinanzeigen ist voll von New Old Stock, Neuware, ein mal getragen usw. Ein Testament der spätrömischen Dekadenz um Guido W. zu zitieren. Und leider hatte er recht. Es ist ein Trauerspiel, was Menschen sich kaufen und nicht benötigen. Ein Trauerspiel in epischem Ausmaß. Und da sprechen wir noch nicht mal über SHEIN oder ähnliches. Ich sage nur "Haul" und ich könnte kotzen.

Ich habe vor ca. 15 Jahren angefangen immer das gleiche zu tragen. Nicht die selbe Kleidung, sondern die gleiche. Ich sehe immer gleich aus, seit 15 Jahren, vielleicht sind es auch schon 16, who cares:

- Crew Neck Sweater / Made in Portugal, Biobaumwolle, schwarz, Neuware

- T-Shirt / Made in Portugal, Biobaumwolle, schwarz, Neuware

- Dickies 873 / Made in Portugal oder Mexico, die aus China kaufe ich nicht, schwarz, second Hand, new old stock oä

- Socken / Made in Portugal, schwarz, Neuware

- Schuhe / My guilty pleasure, ich trage fast nur Adidas, Originals oder von Adidas Skateboarding

- Jacke Sommer:
Levis Trucker Jacket, schwarz, second Hand

- Jacke Winter:
Levis Trucker Jacket mit Sherpa-Futter, schwarz, second Hand

- Brille: Rayban Wayfarer, frühe 80er Jahre, second Hand

- Sonnenbrille: Rayban Wayfarer, frühe 80er Jahre, second Hand


Ich habe mich immer bemüht sorgsam und bewusst mit Dingen und Ressourcen umzugehen und das werde ich auch weiterhin tun. Ich wohne hier direkt an einer Schule, einem Gymnasium. Ich sehe jeden Tag dutzende SchülerInnen. Die sehen ausnahmslos alle aus wie (mindestens) aus der H&M Werbung. 9 von 10 haben eine Mobiltelefon in der Hand. Jede Menge haben Einmal-Kaffeebecher dabei, sitzen bei uns im Eingang und hinterlassen Plastikmüll. Freitags war dann zeitweise FFF Demo ... jetzt nicht mehr, so weit ich das sagen kann. Eventuell kam ihnen das irgendwann selber komisch vor oder das Klima war bereits gerettet.


Was ich sagen möchte:

Ich habe die Schnauze voll mich für das Tun von anderen in Sippenhaft nehmen zu lassen. Sowas von die Schnauze voll. Ich habe den scheiss Planeten nicht an die Wand gefahren.

Es wird immer so weiter laufen – bis es nicht mehr geht, das muss doch jeder einsehen, der ein paar Jahre unter Menschen gelebt hat. Nichts wird sich ändern, da kann man hierzulande oder um uns herum so viel Kleben und Protestieren so viel man will.

Wer soll den Menschen in Indien, Pakistan oder Afrika, die sich den Arsch für ein bisschen Wohlstand aufgerissen haben sagen, das sie das Licht und die Heizung doch bitte aus lassen sollen. Die zwei Stunden Fussmarsch doch bitte wieder ohne ihr hart erarbeitetes Auto oder Moped machen sollen. Die interessiert das nicht und ich kann es verstehen. Man lebt jetzt und nicht in fünfzig Jahren. Und es werden immer mehr.

Ich habe wie jeder andere hier lebende Mensch auch dazu beigetragen das es so ist wie es ist, aber nicht in dem Maße wie es mir pauschal angedichtet wird. All das spaltet die Gesellschaft immer mehr, es zersplittert sie.

Wir brauchen jemanden, der uns als Gesellschaft wieder näher zusammen bringt. Habeck ist es nicht, der will verständlicherweise seine Agenda maximal möglich durchziehen, darauf haben die Grünen ja auch lange genug warten müssen. Scholz ist es aber auch nicht, dafür ist er zu wortkarg und ungelenk und kommt für mich auch irgendwie abgehoben rüber. Merz als Perspektive ... ja mei.

Aber spätestens wenn die Ampel "fertig" ist, wird das Pendel umschwingen. Oder meint ihr nicht? Es gibt eine schweigende Mehrheit, die all das was aktuell abgeht erträgt und dieses Land trotz allem trägt. Die gehen nicht auf die Straße für oder gegen etwas, die sind einfach damit beschäftigt am Leben zu bleiben und halten die Schnauze.

Und abgesehen davon ... wenn die Menschheit weg ist wird sich dieser schöne Planet regenerieren und das Sonnensystem ist wieder ein besserer Ort.

Wir genossen ein Privileg und das haben wir verspielt. Now deal with it.

Adios


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