Thema:
Sammelantwort für all flat
Autor: tofmof
Datum:20.09.22 20:22
Antwort auf:seit sechs Tagen auf Ritalin von tofmof

Also generell mal zu meiner Geschichte. Aufmerksam wurde ich, als die Psychologen eines unserer Kinder die Symptome aufzählten, die in dem Fall der Kindes zur ADHS Diagnose führten. In dem Moment guckten meine Frau und ich uns fragend an. Ob das vererblich ist, wollte ich wissen. Ja, zu 76% hiess es. Danach hab ich mich in die Materie eingelesen und es fiel mir jeden Tag erneut wie Schuppen von den Augen.
Ich bin dann durch mehrere Screen-Gespräche gegangen und landete schliesslich (nach vielen Monaten Wartezeit) bei einer Psychologin, die mich (und auch meine Frau, da eine zweite Person viele Dinge neutraler einschätzen kann) viele Stunden befragte. Zusätzlich kamen dann viele Fragenlisten und Gespräche mit meinen Eltern (weil es die Diagnose nur dann gibt, wenn man es auf jeden Fall auch schon vor dem 12ten Lebensjahr hatte).  
Dann kam eben die Diagnose und auch der Verweis zum Psychiater.

Wie geht es mir jetzt (King Ernie)?
Noch ist die Ritalinbehandlung natürlich noch recht neu. Ich hatte vorher dieselben Ängste und Vorbehalte, die wohl jeder Mensch hat. Bin ich dann noch derselbe? Gehört ADHS inzwischen nicht irgendwie zu meinem Charakter? Ist es nicht ein Teil von dem, was mich ausmacht? Aber ich wusste bereits aus meiner sehr umfangreichen Recherche, dass auf Medikation nicht jeder gleich reagiert, und man danach nicht einfach eine Potatoe ist, die emotionslos in der Ecke sitzt. Vielmehr hilft Ritalin Ruhe in den Kopf zu bringen, und die entsprechenden Schubladen im Gehirn ohne tausend Umwege zu finden. Und ruhiger fühle ich mich auf jeden Fall. Ich spreche noch immer schnell, bin noch immer produktiv und kreativ (bei Sachen, die mich auch interessieren), aber komme endlich zur Ruhe. Ich bin nicht mehr ständig unter Strom und denke drei Gedankengänge gleichzeitig. Das geht sicher noch besser, aber vielleicht ist bei mir auch noch nicht alles perfekt eingestellt.

Zu Magus: Heisst das, du würdest auch um mich einen Bogen machen? Eigentlich verändert einen das Ritalin ja nicht. Es ist wie gesagt eine Unterversorgung im Hirn, um es mal einfach auszudrücken. ich glaube du würdest es bei mir kaum bis garnicht merken.

Zu thestraightedge: Das eine schliesst das andere ja nicht aus. Es gibt massig fest im Leben stehende Menschen, die ADHS haben oder hatten (Einstein, Bill Gates etc.), aber das bedeutet ja nicht, dass es keinen Leidensdruck gibt. Einstein ist auch sitzengeblieben. Ich habe mein ganzes Leben gehört, warum ich alles ständig so extrem mache, warum ich so chaotisch bin, ob ich auch mal abschalten kann und vor allem, ob ich ständig so viel rede. Und unter dem nicht abschalten können, dem Unvermögen Texte/Vorträge/Stoffe aufzunehmen, die mich nicht interessieren, habe ich sehr gelitten. Ich musste immer extra hart kämpfen, um gewisse Sachen gebacken zu bekommen und wusste nie, dass es mit meinem Hirn teilweise garnicht bzw. nur durch extremen Druck oder Belohnung möglich ist. Natürlich nagt es am Selbstbewusstsein, wenn man ständig versucht feste Strukturen zu entwickeln, aber immer wieder scheitert, weil das Hirn irgendwann gelangweilt ist, abgelenkt wird oder dem nächsten Dopamin-flash hinterher jagt. Ich habe das riesige Glück fast alle positiven Superkräfte des ADHS mitbekommen zu haben. Dadurch ist es eben auch nie aufgefallen, da ich durch meine kreative Ader immer Geld verdienen konnte und so nicht (wie viele andere) alles halbe Jahr den Job wechseln musste.
Und jetzt ein Punkt, den du sicher am besten nachvollziehen kannst: Selbstmedikation! Ich habe immer wieder versucht mich mit Cannabis selber zu behandeln. Um runter zu kommen, selten um es abzufeiern. Habe nie Cannabis Shirts getragen, Cheech und Chong Poster an der Wand gehabt, oder so ein Kiffzimmer mit Lichterkette gehabt. Nein, ich wollte Ruhe im Kopf und leicht einschlafen können. Das ging einigermassen mit Cannabis. Aber Cannabis hat auf Dauer üble Nebenwirkungen. Zumindest, wenn man es chronisch konsumiert. Anfangs beruhigte es, aber nach ein paar Wochen wurde ich tagsüber gereizt (konsumierte immer nur nachts, wenn alle Kinder im Bett waren), hörte wieder auf, nur um ein halbes Jahr später wieder anzufangen. Dazwischen musste ich mich mit Laufen ruhigstellen. Jeden Tag am besten, und umso weiter, umso näher war ich im Kopf an dem Zustand, der für andere wohl normal ist.
Ausserdem leide ich unter der Impulsivität. Wenn ich mich oder jemand anderen ungerecht behandelt sehe (nach meinem Empfinden wohlgemerkt), kann ich mich nur schwer beherrschen, nicht laut zu werden, emotional zu werden, oder mit einem Türknallen die Diskussion zu verlassen. Mir ist das immer wieder aufgefallen, wie sehr mich das nervt, aber keine Strategie hat im Moment funktioniert, in dem ich sie nötig hatte. In gewisser Weise "leide" ich auch unter meinem Hyperfokus, aber das würde jetzt den Rahmen sprengen. Lustigerweise habe ich vor zwei Jahren ein Buch geschrieben, wo ich vom "Meer-Monster" erzählte. Ich dachte nur ich hätte so ein Monster im Nacken, und wusste ja damals noch nicht, dass sich das ganze Hyperfokussierung nannte und ein Symptom von ADHS ist.
Das ist allerdings auch eine Superpower, nur ohne Ritalin teilweise schwer zu kanalisieren. Aber von Anfang an war klar: ich gucke mir das einfach mal an. Wer ein Leben lang von seiner Umgebung zu hören bekam, was für ein nie zur Ruhe kommendes Energiebündel man doch ist, will zumindest einmal erfahren, wie es sich anfühlt wie andere Menschen zu denken. Ob ich das jetzt ewig chronisch nehme, ab und zu zielgerichtet, oder garnicht mehr, wird sich noch entscheiden.


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