Thema:
Auf...und ab.... flat
Autor: Sven Mittag
Datum:08.08.22 14:43
Antwort auf:Was ist aus euch geworden... von TOM

So jetzt ich mal mit einem Wall of Text. Teil 2 kommt, wenn ich mal wieder Zeit habe - aka ein Patient mich versetzt wegen Sonnenschein.



Eigentlich müsste ich extrem glücklich sein. Ich habe zwei liebe und extrem intelligente Kinder, eine wunderhübsche und liebende Frau und bin etwas, was laut Maniac-Forum unmöglich ist: aus der unteren Mittelschicht scheißenreich geworden…ohne Lotto…ohne Erbe…durch gute Entscheidungen und sehr viel Arbeit. Eigentlich…

Ein kleines Quäntchen Glück hat natürlich auch dazu beigetragen. Meine Eltern kamen - freundlich formuliert - aus der unteren Mittelschicht. Also wirklich aus der UNTEREN und im Nachgang würde ich Sie als leicht dumm bezeichnen. Dies hatte jedoch den enormen Vorteil, dass Sie der Meinung waren zur Oberschicht zu gehören und uns Kindern dieses übertriebene Selbstverständnis mitgegeben haben. Und dies war sicherlich der erste wichtige Baustein für meinen späteren Erfolg - ein schon fast unendliches Selbstvertrauen und entsprechendes Auftreten.

Dazu kam jedoch sicherlich noch, dass die Schule mir sehr leicht fiel. Für eine „2“ gab es bei uns zu Hause Hausarrest und ich kam irgendwann in der sechsten Klasse auf dem Gymnasium in den Genuss dieser Strafe. Dabei musste ich mich kaum anstrengen. Hausaufgaben wurden in Rekordzeit oder gar nicht gemacht. Und insgesamt war ich aus Sicht der Mitschüler vermutlich zu recht ein unliebsamer Sonderling.

Entweder ich brillierte mit meinen Beitrag am Unterricht oder ich störte den Unterricht massiv, ohne dass dies jemals nennenswert von den Lehrern sanktioniert wurde. Den Abschuss stellte bei meinen Eskapaden sicherlich die Oberstufe dar. Ich ging nur noch nach Lust und Laune in den Unterricht. Am Ende hatte ich 50 % Fehlzeiten und habe wirklich über Monate vergessen (!), dass ich eigentlich Biologie-Grundkurs hatte, weil ich anfangs nicht hinging - und es dann wirklich vergessen hatte.

Obwohl obiges nach deutschem Schulrecht eigentlich Grund genug wäre, die Versetzung selbst bei guten Noten auszusetzen, habe ich natürlich mein 1er-Abitur erhalten. Immerhin war ich der exzentrische Nerd der Schule, der mal eben in der 9ten Klasse einen Aufsatz schrieb, der dem Abiturjahrgang als Musterbeispiel für einen perfekten Aufsatz herhalten sollte. Oder der einfach mal mathematische Tricks sich selber herleitete, die eigentlich erst im Studium drankamen. Die Lehrer haben eigentlich alles akzeptiert, sofern ich am Ende nur wieder Leistung gebracht habe.

Dumm für mich war nur, ich wollte Zahnmedizin studieren. Nicht weil ich wirklich wusste, was man da können musste. Wie das Studium aussah. Welche Fähigkeiten man brauchte. Ob es mir wirklich Spaß machen würde. Vielmehr habe ich irgendwann mal in der Jugend eine Rechnung unseres Kieferorthopäden gesehen und mir gedacht - jepp, garantierter Weg zum Reichtum. Das will ich machen!

Blöde nur, dass das Studium eine recht hohe handwerkliche Begabung von mir forderte. Ich war Videospielnerd und besaß entsprechend eine überdurchschnittliche Hand-Augen-Koordination, hatte aber so irgendwie nie ersthaft was künstlerisches gemacht.

Schlimmer noch - ich habe nie gelernt, zu lernen. Nun war ich also in einem Studium, wo jeder Teilnehmer einen 1er-Abischnitt hatte. Ich nicht mehr der Überflieger war. Wo in den ersten 2 Monaten 50 % der Studienanfänger abbrechen. Und wo es folgenden schlechten Scherz gab:

Was ist der Unterschied zwischen einem Zahnmedizin-Studenten und einem Physik-Studenten? Willst du von einem Physikstudenten, dass er das Telefonbuch auswendig lernen soll, frägt er dich „wieso?“. Frägst du einen Zahnmedizinstudenten, ob er das Telefonbuch auswendig lernen soll, frägt er dich „Bis wann?“.

Das Studium erforderte ein enormes Maß an Einsatz und vor allem auch die Fähigkeit, die dümmsten Anweisungen ohne Widerworte durchzuführen. Nun, dies waren dann doch Dinge, die ich erst auf den harten Weg lernen musste. Dennoch biss ich mich durch und hatte schließlich das Examen in der Tasche.

Parallel musste ich meine Tätigkeit in der Videospiel-Branche einstellen. Neben einem kurzen Intermezzo mit und um HaIp war ich seit der Oberstufe sehr stark in AreaXbox und später AreaPSX involviert. Beides machte mir unglaublich viel Spaß, deutlich mehr sogar als mein Studium. Doch nüchtern betrachtet, war mir bewusst, dass spätestens mit 40 eine vernünftige Karriere mit gutem Einkommen hier eher schlecht möglich war. Dennoch blieben einige gute Erinnerungen, und einige weniger Gute.

Sei es der erste (?) Videobericht eines Online-Magazins in Deutschland mit der schwulen Variante von Ninja Gaiden ;) Oder der Shitstorm, der meine Review zu Splinter Cell auslöste. Durch meinen guten Draht zu Nils Bogdan, den PR-Manager, erhielten wir den Review-Code zu Splinter Cell irrwitzig früh. Da ich schon die Preview gemacht hatte, durfte ich mich trotz bevorstehenden Umzugs dransetzen und zockte das Spiel in Rekordzeit von 2 Tagen komplett durch. Der zeitliche Druck war vielleicht auch der Grund, wieso ich im Nachhinein die eine oder andere Formulierung etwas zu scharf formulierte. Zudem wagte ich es dem - imho ohne Quicksave - viel zu schweren und frustierenden Spiel „nur“ eine hohe 80er-Wertung zu verpassen. Der Artikel ging so online - Redaktionssitzungen waren bei AreaXbox unüblich. Und ich zog um und war eine Woche ohne Internet. Als ich wieder drin war, quoll mein Mail-Account mit einem Schriftwechsel zwischen Alexander Laschewski (dem Chefredakteur von AreaXbox) und Nils über, wo der gute Ubisoft-Mann uns am liebsten die Pest an den Hals wünschte. Zudem gab es einige nette Drohbriefe der Leserschaft, die zwar den Titel bisher nie gespielt hatten, aber genau wussten, dass ich keine Ahnung vom Game hatte und eh voll der Newb bin. Am Ende verloren wir unsere AAA-Stelle bei der PR-Abteilung von Ubisoft und Nils verlor im nächsten Jahr die Wette gegen mich, dass Splinter Cell NIEMALS eine Quicksave-Funktion erhalten würde, weil dies gegen das Spielkonzept verstoßen würde.

Mitte im Studium merkte ich zudem, dass Kieferorthopäden zwar wirklich irrwitzig viel Geld verdienten (Stundensatz von 2000 Euro sind nicht unüblich), aber alles geisteskranke Idioten waren. Und außerdem waren Chirurgen eh viel cooler. Die Jungs waren selbstbewusst. Kriegten die Mädels. Und das Blut spritzte aus allen Ecken. KFOler fuhren Porsche. Chirurgen hatte einen MV Agusta.

So entschied ich mich nach dem Studium für die Weiterbildung zum Oralchirurgen. Nochmal drei zusätzliche Jahre Spezialausbildung. Puh! Währenddessen traf ich meine Frau, wir heirateten und entschieden uns danach nach reiflicher Überlegung, dass nur Idioten in die Großstadt wollen.

Und entschieden uns für die Niederlassung auf dem Land. Immerhin kann ich für ein Vermögen entweder ein 100 qm Appartment ohne Garage oder Keller haben in München Innenstadt haben. Oder ein 500 qm-Haus mit Pool und nochmals 1000 qm Garten auf dem Land. Beides für den Gegenwert der gleichen Arbeitsleistung. Irgendwie fanden wir letzteres für das tägliche Leben irgendwie doch schlauer und führen dann halt mal 1-2 im Monat 45 Minuten für unseren Kulturbedarf wo hin. Netflix war in beiden Regionen auch das Gleiche.

Wir übernahmen also die alte Praxis, in welche meine Frau ihre Assistenz-Zeit als Zahnärztin vollbracht hatte und pimpten diese gehörig auf. Geld hatten wir zwar keins, aber hey - die Bank gab mir welches. Eigentlich gefühlt so viel ich wollte. Also nahm ich voll entspannt einen Kredit über 600.000 Euro auf. Hatte effektiv nie selbstständig gearbeitet. Hatte Tags darauf mir noch Gedanken darüber gemacht, ob ich mir wirklich eine dritte Hose für 80 Euro leisten kann. Hatte absolut null Rücklagen oder Sicherheiten und wurde allein durch die Gehälterzahlungen jeden Monat um 15.000 Euro ärmer. Kurzum war der einzige Gedanke am Abend nach dem Bankgespräch im Kino „Ich komm` in den Knast! Ich komm` in den Knast! Ich komm` in den Knast! Ich komm` in den Knast!“

So kam es dann nicht. Wir trafen viele gute Entscheidungen. Machten unsere Arbeit schließlich so gut, dass unser Steuerberater einmal fragte, ob bei uns in der Gegend das Geld auf den Bäumen wächst und man als Patient gerne mal 6 Monate auf den nächsten Füllungstermin warten musste. Wir fingen an Urlaub zu machen. Dann fingen wir an RICHTIGE Urlaube zu machen. Und irgendwann mal aß dann der Vorstand von BMW oder der Radel-Chef von ZEG im Urlaub neben uns beim Abendessen.

Gefühlt hatten wir es absolut erreicht. Wir konnten uns finanziell wirklich (fast) alles leisten. Der Job machte Spaß. Es war gefühlt perfekt. Nur waren wir langsam 30 und kinderlos. Eigentlich hatten wir auch beide keine Lust auf Kinder. Die waren laut, anstrengend und es war ja alles  gerade so perfekt. Aber als Arzt wusste man halt, entweder Social Freezing oder mit 35 wurde es langsam russisch Roulett mit der Zeugung. Also entschieden wir uns für einen „Versuch“ und waren „erfolgreich“.

Und mein Gott, waren wir dumm. Als ich den kleinen Menschen das erste Mal sah, mich um Ihn kümmerte, in der Nacht gefühlt 1000 mal nach einem anstrengenden Arbeitstag aufstand, um die Windel zu wechseln oder die Flasche zu geben, war ich so erfühlt wie nie im Leben. Wir entschieden uns beide, dass meine Frau mit der Praxis zumindest die ersten Jahre aufhörte und für das Kind da zu sein. Zu grausig waren noch die Erzählungen meiner Ex-Chefs, dass Sie den Geburtstag Ihrer Nanny kannten, aber nicht die Geburtstage Ihre Eltern. Das Kind war uns definitiv wichtiger als das Auskommen. Und realistisch gesehen, brauchten wir Ihren Verdienst nicht. Da gab es dann halt mal ein 800 Euro-Abendessen weniger. Im wahrsten Sinne Luxus-Probleme.

DAS. LEBEN. WAR. PERFEKT.

Unsere kleine Tochter gedieh wunderbar. Dank der maximalen Fürsorge der Mutter und unserer beiden Kredo uns von der besten Seite zu präsentieren, wurde aus dem Kind ein moralisch durch und durch integrerer und vor allem hochintelligenter Mensch. Und dabei war sie auch noch so unglaublich süß - und knuddelig - und eigentlich machte Sie ja auch kaum Arbeit. Wir spielten uns ein. Alles lief rund. Die Praxis allein zu schmeißen, war zwar eine recht ordentliche Herausforderung. Aber es ging noch.

Zeitgleich kamen die ersten Gedanke auf, ein Haus zu bauen. Laut unseres Steuerberaters waren wir perfekte Bank-Kunden. Wir nahmen horrende Kredite auf, bedienten die Kredite stets mustergültig und investierten auch noch fast unseren ganzen Gewinn ins Unternehmen. Von den vielen und teils dekadenten Urlauben einmal abgesehen, gönnten wir uns gemessen an unserem Verdienst recht wenig. Wir fuhren eine Peugoet 206 und wohnten in einer 100 qm-Wohnung, die Teil der Immobilie war, in welcher auch die Praxis war. Mehr brauchten wir bisher ohne Kinder auch nie. Wenn man nur genug arbeitet, gibt man einfach auch weniger Geld aus. So wirklich stand ein eigenes Privathaus nicht wirklich auf meinen Radar, aber ich gab meiner Frau grünes Licht, sich umzuschauen. Wenn Sie was wirklich Gutes finden würde, kann man darüber reden. Eigentlich war ich aufgrund der Situation am Immobilienmarkt sicher, dass dies eher ne Beschäftigungstherapie war und wenig Produktives herauskommen würde. Wie sollte ich mich irren. Schon 6 Monate später präsentierte mir meine Frau zwei potentielle Grundstücke in bester Hanglage. Eines wurde daraufhin gekauft.

Das Kind wurde mittlerweile ein Jahr alt, die 35 kam noch näher. Und so ein Einzelkind ist doch sozial immer leicht gehandy-caped. Also so ein zweites wäre zumindest eine Überlegung wert. So viel mehr an Arbeit wäre dies doch nicht?

Oh Gott, lagen wir falsch! Während unsere Erste wirklich sehr pflegeleicht war. Schrie unsere zweite Tochter - gerne mal 3-4 Stunden pro Nacht ohne Unterbrechung. Nachdem sich meine Frau also um unsere erste Tochter kümmerte, durfte ich nach einem langen Arbeitstag, „versuchen“ mit Singen, Streicheln, gut zureden, Tragen das Kind zum Schlafen zu überzeugen. Und wurde dabei angeschrien. LAUT angeschrien. Zugleich nahmen wir noch einen zweiten Kredit auf, renovierten und vergrößerten die Praxis nochmals gehörig. Und versuchten zu expandieren aufgrund des nicht zu bewältigenden Patientenaufkommens. Der schnelle Wachstum im Kombination mit dem damals schon grottigen Arbeitsmarkt stellte sich jedoch als absolut dumme Idee heraus. Aus der Not heraus nahmen wir Leute ins Team auf, die wir normalerweise nie genommen hätten. Entließen Sie aus der Not heraus nicht in der Probezeit, obwohl Sie sich als unbrauchbar, dumm und vor allem asozial herausstellten. Und so kam der Punkt, wo ich absolut ungern in Praxis ging und selbst unser Kernteam mit absolut genervten Blick jeden Tag erschien. Am Ende verließ uns die Hälfte des Teams. Wir schrumpften uns „gesund“ - mit nem deutlich höheren Kredit.

Irgendwann einmal war ich dann so weit, dass ich ernsthaft unsere Tochter nach einem drei Stunden Schreimarathon in der Nacht gegen die Wand werfen wollte. Also legte ich Sie schreiend in Ihr Bett und verließ das Zimmer. Und es war still! Niemand schrie mehr? Das Kind war eingeschlafen! Es stellte sich heraus, das unsere Zweitgeborene vermutlich schrie, weil sie schlafen wollte. Und der Papa mit seinem Tragen/Wiegen/Singen sie wach hielt und nervte. Es ging zumindest wieder aufwärts. Das Schlafensritual wurde ein Videospiel-konformes ins Bett legen und danach das Zimmer verlassen.

Im folgenden Jahr hatten wir einen absoluten Glückgriff bei unserer neuen Assistenzärztin. Die junge Dame war freundlich, fachlich fit und handwerklich spitze. Endlich gab es auch im Betrieb etwas dringende Unterstützung für mich. Unsere Begeisterung nahm sogar so zu, dass wir uns ernsthaft Gedanken machten, ihr eine Partnerschaft anzubieten. Immerhin vertrugen wir uns privat ebenfalls sehr gut. Spätestens seit Corona wusste ich jedoch, dass es gut war, dass es wegen der Kinderplanung der Kollegin nie dazu kam. Als Corona auch bei uns überhand nahm und die ersten staatliche Quarantäne-Massnahmen kam, erzählte mir die Kollegin auf einmal etwas von Bill Gates und einer großen Verschwörung der Eliten. Eine wissenschaftlich ausgebildete Ärztin. Eine Frau, die definitiv nicht dumm war. In dem Momentan wusste ich echt nicht, was ich antworten sollte. Gefühlt hätte ich Sie am liebsten ausgelacht und gefragt, ob sie es ernst meine. Aber da ich mit ihr zusammenarbeiten musste, bis ich mir auf die Zunge und sagte nichts. Die Partnerschaft stand nach der Aktion definitiv nicht mehr zur Debatte.


Ende Teil 1 aus Zeitmangel


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