Thema:
Re:Wladimir Klitschko zum Brief der Prominenten flat
Autor: Pezking
Datum:04.05.22 10:32
Antwort auf:Re:Wladimir Klitschko zum Brief der Prominenten von Link

>>"Unseren Widerstand als Kriegstreiberei zu beschreiben und als eine Provokation Putins darzustellen, ist völliger Unsinn.
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>Aber wo steht das denn in dem Brief? Darin geht es aus meiner Sicht überhaupt nicht um das Verhalten der Ukraine, sondern um das Deutschlands bzw. des Westens. Adressat ist schließlich nicht Präsident Selenski, sondern Bundeskanzler Scholz.
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>Vorab: Ich finde den Brief selbst nicht besonders gelungen, weil er IMO zu solchen Fehlinterpretationen einlädt. Und ich hätte ihn auch deshalb nicht unterschrieben, weil ich mir selbst unsicher bin, welches Verhalten in dieser Situation richtig ist. Trotzdem sollte man genau hingucken.
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>Also schauen wir uns diesen Abschnitt doch mal an:
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>Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.
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>Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.

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>Klar wird hier die Frage gestellt, wie viel Leid der Zivilbevölkerung hingenommen werden sollte. Dann kommt aber sofort das Wort vom berechtigten Widerstand gegen einen Aggressor. Und der nächste Satz, in dem es um "die Verantwortung für die Eskalation zum atomaren Konflikt" geht, bezieht sich IMO klar auf den Westen und dessen Verhalten in diesem Krieg (der Ukraine wurde ja nie vorgeworfen, einen atomaren Konflikt heraufbeschwören zu wollen; das wäre schließlich völlig unsinnig). Genauso der nächste Satz: Ich verstehe ihn so, dass die ukrainische Regierung selbstverständlich machen kann, was sie will, also natürlich berechtigten Widerstand gegen einen Aggressor leisten kann, solange sie möchte. Gleichzeitig wird die Frage gestellt, ob der Westen die Verantwortung dafür tragen möchte, den Krieg durch die Lieferung schwerer Waffen immer weiter in die Länge zu ziehen - wenn am Ende sowieso ein Kompromiss stehen muss, wie es im ersten Absatz heißt. Wie man zu dieser Frage steht, ist eine andere Frage. Aber man kann sie IMO sehr wohl stellen, ohne der Ukraine (dämlicherweise) Kriegstreiberei vorzuwerfen.
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>Wie gesagt, mir geht es gerade überhaupt nicht darum, welches Verhalten richtig und welches falsch ist. Sondern darum, dass dieser Brief IMO vielfach missverstanden wird. Erstens weil er in Teilen schlecht formuliert ist, zweitens (vermutlich) mutwillig.


Deinen letzten Absatz habe ich registriert, trotzdem will ich nochmal (nicht an Dich gerichtet) darauf hinweisen, dass am Ende des Konflikts kein Kompromiss stehen muss. Russland kann diesen Krieg verlieren - wenn die Ukraine die Mittel für eine Gegenoffensive hat, um die von Russland besetzten Gebiete wieder unter die eigene Kontrolle zu bringen. Und dafür braucht das Land schwere Waffen.

Und dieses Szenario erachte ich derzeit für erheblich wahrscheinlicher als dass Russland noch einmal die Möglichkeit haben wird, die Ukraine komplett zu unterwerfen.

Als dritte und letzte Alternative sehe ich ansonsten nur einen sehr langen Krieg, ohne Aussicht auf irgendeine Entscheidung.

Russland wird sich nicht ohne Gewalt zurückziehen und die Ukraine wird keinen Teil ihres Territoriums am Verhandlungstisch Mördern, Vergewaltigern und Kriegsverbrechern überlassen. Mit diesen Fixpunkten muss man jetzt arbeiten.

Und ich halte es momentan auch grundsätzlich für falsch, über einen möglichen Atomkrieg nachzudenken und dieses aberwitzige Szenario in die derzeitigen Entscheidungsfindungen einfließen zu lassen. Zumindest über den klar definierten Auslöser "Bündnisfall" hinaus, den es natürlich (wie immer) zu verhindern gilt. Und alle Parteien tänzeln ja wie eh und je bewusst und gut erkennbar um dieses Szenario herum. Will keiner, wird nicht passieren.

Russland handelt nach wie vor nicht irrational oder selbstmörderisch. Das Land hat sich einfach nur massiv verkalkuliert, den Westen unter- und sich selbst überschätzt. Und jetzt sieht man nirgends mehr einen gesichtswahrenden Ausweg - aber selbst vor diesem Hintergrund ist ein Atomkrieg die mit Abstand schlechteste Option. Im schlimmsten Fall zieht Russland den Krieg einfach durch Artillerie und das Verheizen von Bodentruppen ewig in die Länge.

Zudem wird viel zu selten daran gedacht, dass China 2014 der Ukraine vertraglich die militärische Unterstützung im Falle eines Nuklearangriffs auf das Land zugesichert hat. Und Peking dürfte eh schon massiv angepisst sein von Putins - gelinde gesagt - "holprig verlaufender" Invasion. Das Land hat durch COVID-19 schon genug Kopfschmerzen, und Xi hätte pünktlich zur "Wiederwahl" eigentlich gerne eine boomende Wirtschaft...

Und deshalb ist der Inhalt dieses Promi-Briefs dumm, zynisch, anmaßend und irrational feige. Und man stärkt damit einzig und allein die Position Russlands. Selbst wenn sich die Verfasser noch so sehr selbst einreden, dass es nicht so wäre.


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