Thema:
Das Werden hat nie ein Ende! flat
Autor: Eidolon
Datum:30.12.21 20:27
Antwort auf:Was ist aus euch geworden... von TOM

In die Poesiealben meiner Mitschüler schrieb ich damals(tm), ich wolle "Professor" werden, anscheinend war ich schon immer irgendwie verkopft bei anderen rübergekommen. Das habe ich nicht geschafft, dazu später mehr.

Über ein "geworden sein" freue ich mich wie ein Honigkuchenplätzchen. Als passionierter Zocker und sein eigenes richtig gutes Geld verdienender Sonntagszeitungsausträger konnte ich mir schon sehr früh viele Abos leisten - 64'er, PowerPlay, Video Games, seit '93 natürlich Man!ac - ich hatte sie alle und verschlang sie alle. Eine ganze lange Zeit lang wollte ich also Spielezeitungsredakteur werden, was gibt es besseres als den ganzen Tag zocken zu können! Zum Glück hat sich das nach dem Abi gelegt, was den Berufswunsch angeht ;-) aber als Hobby habe ich das nun geschafft. Seit ich zunächst Gastautor und nun fester Redakteur der RETURN Redaktion geworden bin. Ein Kindheitstraum erfüllt, das fühlt sich, auch wenn es natürlich pillepalle ist, richtig gut an.

Abi, Zivi, Studium, Professur in "irgendwas mit Computern" - das hätte es werden können sollen, aber das arme und alkoholkranke Elternhaus machte es zunichte. Ich wollte nur möglichst schnell schnell schnell raus raus raus und auf eigenen Füßen stehen. Dazu ist ein Unistudium eher ungeeignet gewesen. So richtig bewusst dagegen entschieden hatte ich mich nicht, allerdings kannte ich aufgrund einer Werdegangsberatung in der 12. Klasse eine gute Alternative: Ein Studium an einer Berufsakademie (heute "Duale Hochschule") ermöglichte es mir - festangestellt bei einem Großkonzern - Geld zu verdienen und gleichzeitig einen mit einem FH-Abschluss gleichgestellten Abschluss zu machen (Dipl.-Ing., Bachelor), in einem Studiengang "irgendwas mit Computern". Schön. Als "IT Professional" wurde ich dann direkt bei dem Großkonzern der mein Studium finanzierte übernommen und arbeitete dort viele Jahre zufrieden und bereiste die Welt im Projektgeschäft. England, Frankreich, Italien, USA, Singapur, Südkorea - ne richtig tolle Zeit mit tollen Erfahrungen.

Der erste Wendepunkt kam, ich lernte endlich die Liebe meines Lebens kennen. Nägel mit Köpfen - mit 31 hat man ja nicht mehr alle Zeit der Welt - zogen wir nach einem Jahr zusammen, heirateten nach zwei. Da meine nun-Frau auch berufstätig und Karriere machend im Leben unterwegs ist, genossen wir etwa sieben Jahre lang ein schönes DINK-wir-machen-tolle-Urlaube-in-der-ganzen-Welt-Leben. Zwischendurch nach 11 Jahren nochmal von Großkonzern 1 zu Großkonzern 2 gesprungen und dabei das Gehalt und 60% gesteigert, was mir zeigte wie Großkonzerne wirklich ticken in Bezug auf "Mitarbeiterentwicklung" (haha). Dann wurde die Familienplanung akut - man bzw. in diesem Fall frau wird ja nicht jünger - und wir richteten alles danach aus. Beide wechselten wir unsere Jobs raus aus der dienstreiseintensiven Dienstleistungsbranche, rein in stabile Innenverhältnisse ohne Reisetätigkeit. Perfekt für Nestbau und Familienzeit. Nachdem wir dort "settled" waren, kam unser Stoppelhoppser auf die Welt, der seitdem eigentlich alles bestimmt und "Karriere" auch nachrangig werden lassen hat bei uns beiden. Wir sind beide einfach in Teilzeit geblieben. Ich bereue es nicht, dass dadurch die Karriere im Großkonzern 2 am Ende ist. Durch das Kind werden auf einmal ganz andere Dinge wichtig. Auch blüht auf einmal das Sozialleben am Wohnort auf, wie wir uns das ohne Kind nicht hätten vorstellen können. Wohnort, Familie, alte und neue Freunde, Hobbies - es passt einfach grad alles und wir fühlen uns pudelwohl.

Klingt eigentlich ganz gut, ist das "Werden" also nun am Ende?
Nö.
Eine gewisse Midlife Crisis nagt an mir. Auf den vier Stuhlbeinen des Lebens (Familie, Freunde, Hobby, Beruf) fühlt sich das Letztere nicht gut an. Es ist NICHT das teilzeitbedingte Karriereende im Großkonzern; es ist das Gefühl der verpassten Chance nach dem Abi.

2022 werde ich meine Teilzeit im Großkonzern daher noch aufstocken (also Stunden noch weiter reduzieren), und habe mich wieder an einer (Fern)Uni eingeschrieben, um endlich in Richtung dessen zu gehen, was ich direkt nach dem Abi nicht konnte: Unistudium abschließen in "irgendwas mit Computern". Wenn alles gut läuft, ist das Ende 2023 fertig. Dann plane ich als "seniorer IT-Professional" der freien Wirtschaft den Rücken zu kehren und zu versuchen, bei einer der Bundesbehörden unterzukommen. Bedarf an erfahrenen IT'lern haben die sicherlich, zumal in meinem Spezialgebiet (Data Science & Machine Learning/"Artificial Intelligence"), man spürt ja im Land einen gewissen Digitalisierungs-Rückstau... Und mit Unistudium könnte ich dann auch endlich verbeamtet werden, was den krassen Gehaltsverlust im Vergleich zur freien Wirtschaft ausgleichen könnte. Oder, wenn Kind größer ist, starte ich doch nochmal bei Großkonzern 3 durch, denn im aktuellen ist ja Endegelände.

Ach, ich vergaß: Den "Professor"-Aspekte werde ich sicher nicht mehr aufholen können, aber ich mache das "next best thing" - ich engagiere mich ehrenamtlich in der MINT-Schülerbildung und halte schülergeeignete Vorträge und Workshops zu meinem beruflichen Fokusthema (Data Science & Machine Learning/"Artificial Intelligence") an den lokalen Gymnasien. Das deckt zumindest den "Lehre"-Anteil des Professors ab. Den "Forschungs-"Anteil werde ich allerdings nie mehr erreichen, manche verpassten Chancen lassen sich dann halt doch nicht mehr aufholen.

So zumindest der Status und Plan des geworden seins und immer weiter werdens.
Mal sehen, wie's läuft...


< antworten >