Thema:
Ich hatte nie einen wirklichen Plan, aber viel Glück flat
Autor: thestraightedge
Datum:27.12.21 12:06
Antwort auf:Was ist aus euch geworden... von TOM

Ich finde den Thread hier wirklich toll und auch die Offenheit. Respekt an alle Beteiligten!

Mein Leben teilt sich eigentlich in 4 Abschnitte: 10 Jahre Kind sein, 10 Jahre Schule, 12 Jahre Sturm & Drang, 10 Jahre Familie.

Ich habe eine perfekte Kindheit verlebt. Am Stadtrand mit Acker vorm Haus, sehr liberal aufgewachsen mit unfassbaren Freiheiten - tlw. bin ich heute schockiert was meine Eltern uns damals zugetraut haben, lol. Dramen, Scheidung, Krankheiten - es gab nichts dergleichen, nicht einmal in meinem unmittelbaren Umfeld. Mit Eltern und Familie präge ich heute ein freundschaftliches Verhältnis und hoffe, so etwas mit meinen Kids auch hinzubekommen. Ich bin auch heute von alledem verschont - und mir ist klar, dass das v.a. auch mit Glück zu tun hat (und dafür klopfe ich auf Holz), und nur ein bisschen damit, dass ich und andere nahe Menschen versuchen, Fäden zusammenzuhalten, Freundschaften und Familie durch Dick und Dünn zu bringen, und gegenseitig auch viel verzeihen. Ich hätte schon viele Freunde verloren wenn ich nicht irgendwann gesagt hätte: Dude, lange nichts gehört, was ist eigentlich das Problem, Du bist doch eigentlich ein guter Typ!?

Nach dem Abi war ich… planlos. Ich hatte viele Hobbies, war Musiker (Drums), war aktiv (Musik, Videospiele, Mountainbike, …) hatte ein weitreichenden, altes, belastbares Freunde-Netzwerk, konnte mich aber nicht so recht zu einem Studiengang durchringen. Da kam mir der Zivildienst recht, den ich in der Jugendhilfe gemacht habe. Eigentlich dachte ich nach 4 Monaten „das machst Du beruflich“, weil ich sehr empathisch bin und den Job wirklich gut gemacht habe. Nach 8 Monaten allerdings war mir klar, dass Empathie nicht gut ist, ich zu sehr an den Schicksalen hänge und nicht wusste ob ich den notwendigen Abstand halten kann - oder überhaupt will. Einen 8-Jährigen Jungen nach einem Tag in der Tagespflege mit dem Bulli wieder in den Haushalt zu bringen, wo der saufende Vater tyrannisiert und es Missbrauchsverdacht gibt: Fucking Hell. Wie oft ich ne Stunde dran gehängt habe und mit den Kids im Auto noch ne gute Zeit gehabt habe. Gesungen, Geschichten erzählt, noch beim Bäcker gehalten - und abends in der Einrichtung erzählt dass der Verkehr furchtbar war und ich deshalb etwas spät sei. Ich würde dennoch gern heute bei meinem Gehalt lieber Kindergärtner sein - das meine ich ernst!

Also das Thema „sozial“ abgehakt und nach Zivi als Aushilfe beim Arbeitgeber meiner Mutter begonnen. Aufträge eintippen und so. Geld verdienen fürs Studium. Nach 6 Monaten wäre ich so langsam Richtung Studium (Medienmanagement o.ä., allmählich lichtete sich der Nebel) gestartet, da frug die Firma: mach doch hier ne Ausbildung. Ich sagte: nee, wollte schon was akademisches machen, und dann haben die mir ein vollfinanzierte Betriebsstudium angeboten. BWL, was ich vorher tatsächlich eher verlacht habe weils viele Spießer aus meinem Abijahrgang als feuchten Traum gehegt haben und ich schon damals und auch immer noch mit Punk, Metal, Antifa usw. weit davon und viel tiefer in der Subkultur war, aber nungut: ich wusste immer noch nicht genauer, was ich mal machen möchte, und habe angenommen. 3 Jahre Play it safe, danach mal sehen. Also, meine Signatur im Punker-Forum geändert: BWL und trotzdem Punk as Fuck. Weil einfach die ganze Subkultur, der Fokus auf Solidarität, Volksküche, Autonome Zentren, Tier- und Menschenrechte blieb, und ich halt Samstags dennoch VWL-Vorlesungen besuchte. Haben natürlich dennoch einige Wegbegleiter abskandalisiert.

Parallel wurde ich immer umtriebiger und gewisserweise hyperaktiv. Während ich im Abi eher Rebell und Slacker war, der nur das Nötigste gemacht hatte, entwickelte sich ein „höher schneller weiter“-Ding. Weniger aus Ehrgeiz und gar nicht mal so im Job und v.a. nicht mit Blick aufs Geld, sondern mehr aus Passion bei Hobbies, Familie, Freunden: wenn mir was gefällt gebe ich Vollgas. Videospielsammlung? Soll mal die größte werden. Plattensammlung? 5.000 sind das Ziel. Auch Familie und Freundschaften lebe ich intensiv. Auch mein Ex-Chef hat gesagt „Du bist schon krass in vielem was Du tust“. Reisen? Wenn schon denn schon. Ich will ALLES sehen. Übrigens, auch meine Internetnutzung läuft so: ich nutze wenig, dafür aber eher intensiv. Hallo, M!

Ich habe also in der Punk/Hardcore-Szene ein Plattenlabel gestartet, Konzerte veranstaltet, eine Community samt Magazin entwickelt. Consollection wurde aufgebaut. Ich hatte viele Projekte, war nebenher mit 2 GbRs selbstständig - und habe dann auch gemerkt, dass ich mich als Selbstständiger zu sehr aufreibe, nicht weiß wann gut ist - und das wo es eigentlich eher Hobby-Aspekte waren. Also die Entscheidung getroffen dass ich mein Leben eher im Angestelltenverhältnis verbringen werde.

Die 12 Jahre Findung waren auch sonst toll: Ich habe das Studium abgeschlossen, es war die beste Zeit zum ausgehen, feiern, Konzerte besuchen und machen, Bands gründen und auflösen, in der Hardcore-Szene zu verkehren in ganz Deutschland und darüber hinaus. Freitags in den Soundgarten Dortmund, Samstags ins Planet in Bochum, Sonntags nach durchgemachter Nacht irgendwo frühstücken. Oft waren wir 6 von 7 Tagen mit der gleichen Clique unterwegs. Treffen, labern, Quatsch machen, Aktivitäten. Ein sehr eingeschworener Freundeskreis. Parallel einige Beziehungen und eine lange, wo ich aber irgendwann merkte: ich bin Anfang 30, das wird hier nix mehr, die Frau ist zu schwierig. Cut, von einem Tag auf den anderen. 3 Monate später eine alte Freundin gedated, verlobt, Kind angesetzt, geheiratet, Haus gekauft. Leben rumgerissen in 12 Monaten von unglücklicher Beziehung zu Frau, Haus, Kind. Ich habe in den 12 Jahren aber auch die Welt gesehen. Lange vor Flugscham war ich z.B. 2008 nur 6 Monate zu Hause. Den Rest habe ich in Taiwan verbracht, in China, Japan, in Kroatien und Portugal, den Niederlanden usw. Ich habe 10 Jahre lang wenig gespart und viel für Reisen und Hobbies ausgegeben. Australien, mehrfach USA, fast jedes Land in Europa - das sind alles Erinnerungen, die mir niemand mehr nehmen kann. Ich würde es jederzeit wieder so machen. Ich habe viel Geld ausgegeben und wenig Geld behalten, zukünftige Absicherung spielt auch immer noch nur einen untergeordnete Rolle bei mir. Eigentlich wollte ich mit Mitte 20 Papa werden, aber das ergab sich nicht. Meine Eltern waren sehr jung, wovon unser Zusammenleben profitiert hat. Ich war dann eher Mitte 30 bei der Geburt von meinem Sohn, dass passte gerade noch.

Dann begannen 2011/2012 die 10 Jahre Familie, und damit musste ich etwas Dynamik aus meinem Leben nehmen: der Fokus auf den Hauptjob stieg, die Hobbies, GBRs usw. mussten tlw. gehen. Seitdem ist es zumindest in diesem Aspekt ruhiger geworden. Reisen mit Familie fällt nicht so leicht, da wirds oft eher Holland und das ist genauso gut wie der Grand Canyon (naja, fast). Die Immobilie und 3 Kinder haben die Finanzsituation auf den Kopf gestellt. Vorher Dinki (Double Income, No Kids) und nun zeitweise Alleinunterhalter mit 100% finanzierter Immobilie, 3 Kindern und vielen Hobbies. Ughs. Gleichzeitig ging das kleine Gewerbe meines Papas den Bach runter, und auch hier musste ich Verwantwortung übernehmen in einer schwierig Phase der Familie. Das hat mir auch gezeigt: ich möchte ungern in meinem Leben einmal wirkliche Geldsorgen haben, da diese Phase extrem belastend für alle war und wir nur mit vereinten Kräften schlimmeres verhindern konnten. Ich musste tlw. mit damals noch überschaubarem Gehalt "bürgen", aber dafür ist Familie halt da.

Davon ab arbeite ich immer noch bei meinem ersten und einzigen Arbeitgeber im 22. Jahr, inzwischen natürlich in etwas anderer Stellung als damals als Aushilfe, der im Serverraum am Not-Schreibtisch Dinge abtippt. ;) Definitiv kein üblicher Lebenslauf. Im Unternehmen, wo man mal "Stift" war, Karriere zu machen, ist nicht ohne - manchmal gehts langsamer voran, manchmal schneller als einem lieb ist, tlw. gibts ungewöhnliche Hürden. Ich bin also eigentlich in einem Office-Job gelandet den ich nie wollte, der mir aber sehr viel Spass macht. Ich bin nicht im Controlling oder so gelandet, sondern im Bereich Operations, also Supply Chain, Logistik, IT. Die Zusammenarbeit mit und Führung von Menschen gibt mir sehr viel. In meinen Job lebe ich viele Ideale aus meiner Sozialisation in Punk und Hardcore. Solidarität, Umwelt, Humanismus, Empathie Integrität, Respekt - das hilft mir ungemein. Der Management-Stil eckt auch mal an, aber bisher hats funktioniert. Auch mein Freundeskreis funktioniert so - wir kennen uns alle 20+ Jahre. Zugleich kann ich mit meinen Idealen im Job viel größere Dinge bewegen als privat. Ne PV-Anlage aufs Dach meines Hauses wäre ein Tropfen auf den heißen Stein. Auf dem Firmendach gibts 250 pKwh. Oder: durch verbesserte Supply Chains 60 Tonnen Luftfracht im Jahr sparen, DAS sind Hebel!

Dennoch liegt mein Fokus klar auf dem Privatleben und meiner Familie. Das ist manchmal tough bei 50+ Stunden in Führungsposition. Im Resultat stecke ich v.a. selbst mit Hobbies und Co. zurück. Ich würde gern mehr Mountainbiken oder zocken, aber das passt gerade alles nur eingeschränkt ins Leben. Ich stehe dennoch mit den Kids auf und bin meist um 18h zu Hause und der Feierabend gehört der Familie. Würde mein Job darüber hinaus auch nur periphär mein Privatleben tangieren (also v.a. bzgl. Stress, Launen, …), würde ich einen Cut machen. Kinder und Frau & Freunde & Familie sind das Wichtigste. Immer. Ich wünschte, der Tag hätte 30 Stunden, oder ich käme mit weniger als den üblichen 6 Stunden Schlaf aus. Ich denke oft abends um 21h „kannst noch den Keller aufräumen“ oder „Du musst noch die Excel-Liste Deiner Sammlung updaten“ usw., und das nach Tagen die eigentlich schon so krass waren dass ich um 18h platt sein müsste. Ich mache das dann einfach. Getting things done. Das befriedigt mich und meinen Trieb. Der fehlende Müßiggang ist vielleicht auf lange Sicht nicht so gesund, aber ich fühlte mich in meinem Leben noch nie gestresst oder überfordert. Mein Leben muss immer laut sein, irgendwie. Wenn ich Death Metal höre und dabei ein englisches SciFi Buch lesen und mich dann noch mit meiner Frau unterhalte sagt die, ich sei halt bekloppt.
Ich glaube, meine lange Betriebszugehörigkeit bringt mir auch in dieser Beziehung trotz extremer Verantwortung eine gewisse Routine und Abgeklärtheit. Auch deshalb scheue ich einen Wechsel, der mir schonmal viel mehr Geld gebracht hätte. Damit kommt auch allgemein doch ein wenig „Ruhe“ ins Leben. Nicht dass es mit allen Hobbies und Famlie und tlw. irrem Job nicht aufregend wäre, aber grundsätzlich lebe ich immer noch im Heimatort im Sauerland, und wo andere 17x umgezogen sind, bin ich einmal von den Eltern in eine eigene Wohnung, und dann ins gekaufte Haus gezogen. Das wars vermutlich für mein Leben, lol. LANGWEILIG! LANGWEILIG!

An sich fühlt sich mein Leben hier und da anstrengend an, weil ich mit aller Konsequenz immer alles für mich und meinen engen Kreis richtig machen will, keine offenen Flanken oder Leichen im Keller haben will. Probleme bringe ich konsequent und unmittelbar auf den Tisch, es gibt keine komischen ausgelaufenen Freundschaften oder Situation in der Familie. Wenn mal ein Freund geht, dann ist das mit aller Konsequenz und wohlbedacht passiert. Diese Einstellung hilft auch im Job, aber es fordert halt tlw. massiven Energieeinsatz ab. Ich lebe tatsächlich so, dass es heute vorbei sein könnte, und es gäbe nichts und niemanden, was ich gern noch gemacht hätte, gern noch gesagt hätte, besser anders geregelt hätte. Das fühlt sich gut an und hilft im Job wie auch privat.


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