Thema:
There is no such thing in life as normal flat
Autor: Pezking
Datum:23.12.21 09:25
Antwort auf:Was ist aus euch geworden... von TOM

Abi gemacht, dann Zivildienst, dann Ausbildung zum Bankkaufmann. Stamme aus keiner Akademikerfamilie, daher schien es allen Beteiligten ratsam, erst mal was "handfestes" zu lernen.

Nach drei Monaten schon hatte ich extreme Fluchtgedanken. Das war rundum überhaupt nicht meine Welt. Wollte aber den Wisch schon kriegen. Bin dann zwei Jahre aufreizend ambitionslos durch die Ausbildung gecruist, habe mir meine erste Freundin (jetzt Ehefrau) geschnappt und dann im Schlussspurt gebüffelt und eine ganz okaye Abschlussnote abgeholt.

Und dann ab durch die Mitte an die Uni zum Philosophiestudium.

Bin dann nach anderthalb Jahren mit meiner Holden in die erste gemeinsame Wohnung gezogen. Das war 2001. Sie blieb bei der Sparkasse, bekam von dort ein Stipendium und studierte BWL. Ich musste mir mein Studium und den Lebensunterhalt selbst finanzieren und heuerte bei einer Versicherung an. Erst im Call Center, dann schnell halbtags dort im Backoffice.

Das war pures Gift für's Studium. Da ich das Geld brauchte und dort viel unmittelbarer Verantwortung und Belohnung spürbar waren, lag mein Schwerpunkt jahrelang bei der Versicherung und kaum bei der Uni. Mangels Erfahrung konnte mich auch niemand (also Eltern oder so) vor einer solchen Schieflage warnen, bis ich mittendrin steckte und mich daran gewöhnt hatte. Ein schlechtes Gewissen hatte ich dabei nie - ich war ja nicht faul. Aber halt auf der falschen Spur unterwegs.

Dann ist meine Frau 2007 an Krebs erkrankt. Sie hatte ihr Studium schon 2005 abgeschlossen, ich steckte noch mittendrin bzw. war mittlerweile festangestellte Teilzeitkraft bei der Versicherung. Damit ich für Frau und Job überhaupt genug Zeit und Energie aufbringen konnte, habe ich das Studium erst mal ruhen lassen.

2008 war meine Frau dann über den Berg. Also "krebsfrei" und augenscheinlich wieder gesund - aber immer noch chronisch krank. Ihre medikamentöse Nachtherapie wird erst jetzt im Februar 2022 enden. So lange wurde sie hormonell behandelt bzw. ruhiggestellt, weil ihr Tumor hormonabhängig war. Deshalb führten letztendlich auch zwischenzeitliche Versuche einer Familiengründung ins Leere.

So eine Krebseinschlag in untypisch jungen Jahren macht etwas mit einem. Ich nahm mein Studium nicht wieder auf. Wir begaben uns nach Stress mit dem Vermieter auf die Suche nach einer neuen Mietwohnung - und landeten Ende 2008 schließlich mitten in der Finanzmarktkrise bei einer erstaunlich erschwinglichen Eigentumswohnung, die kurz vor der Zwangsversteigerung stand. Deren Preis mutet heute absurd niedrig an: Maisonette-Wohnung im Taunus, über 100qm, Keller, TG-Platz mit brandneuer Echtholzküche, die schon fertig beim Schreiner stand - für 150.000 Euro. Aber nach der Krebsscheiße hatten wir uns das Glück auch mal verdient.

Weniger schön war, dass meine Versicherung dann im Monat des Einzugs in unsere neue Wohnung verkündete, dass sie ihren Standort in Frankfurt schließen wird. Schlagartig hatte es sich dann schon ausgezahlt, dass meine Frau die Wohnung allein gekauft hat und der Kredit nur auf einem (ihrem) Gehalt basierte.

Ich war dann etwa ein Jahr lang arbeitslos, aber nicht untätig. Über 40 Bewerbungen führten während der Finanzmarktkrise nur zu einem Bewerbungsgespräch und keinem neuen Vollzeitjob. Aber zwei Minijobs habe ich mir recht schnell angelacht: Ich fing zum einen an, für die lokale Zeitung zu schreiben und zum anderen heuerte ich als Researcher im Home-Office für eine im medizinisch-pharmazeutischen Bereich tätige Firma an.

Und gleichzeitig hatte ich so genug zeitliche Flexibilität, dass wir uns einen Golden Retriever anschaffen konnten. Das war ein rundum extrem stimmungsaufhellender Schritt!

Die Firma hatte schnell mehr Bock auf mich. Somit endete die Arbeitslosigkeit, und für die Zeitung schrieb ich auch weiter.

Aber der Job war nicht von Dauer, typisches Tohuwabohu in einer jungen Firma, 2014 war dort Schluss. Und auch die hiesige Zeitung wurde von ihrer Druckerei an einen Verlag in Flörsheim verkauft.

Das entpuppte sich aber als großes Glück für mich, denn plötzlich schrieb ich nicht nur seichten Larifari-Quatsch für das hiesige Amtsblatt, das redaktionell fast nur aus dem Rathaus gefüttert wurde, sondern für einen waschechten Verlag mit aufrichtigen journalistischen Ambitionen und einem großen Verbreitungsgebiet.

2014 wurde aus meinem Minijob dort eine Festanstellung, ich übernahm immer mehr Aufgaben, alles entwickelte sich in eine gute Richtung.

Dann die Pandemie: Kurzarbeit, Kündigungen - aber ich wurde dabei zu einer umso wichtigeren Säule im frisch verschlankten Verlag. Ich bin dort jetzt für zwei Zeitungen der leitende Redakteur. Ich bin gut vernetzt in der hiesigen Politik, ich darf nächstes Jahr die Debatte der Bürgermeisterkandidaten in einer Nachbarstadt moderieren - das macht schon Spaß. Und das auch obwohl ich jetzt netto kaum mehr verdiene als vor 15 Jahren halbtags bei der Versicherung. Jobmäßig fühle ich mich endlich irgendwo angekommen.


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