Thema:
Re:Danke Mutti ! flat
Autor: Atlan
Datum:18.12.21 13:37
Antwort auf:Re:Danke Mutti ! von Kilian

Dann wäre der Idealfall also eigentlich mindestens weitere vier Jahre mit Merkel gewesen statt nun dieser linksgrünversiffte Regierungswechsel, oder was?

Nur weil AfD und Wutbürger Merkel seit ein paar Jahren lautstark aus den falschen Gründen kritisieren, muss man sich als jemand, dessen Herz auch nur ansatzweise links schlägt, doch nicht ständig reflexartig zu einer Verteidigung der Kanzlerin der sozialen Kälte versteigen. Je stärker Merkel von Rechts aus den falchen Gründen kritisiert wird, desto wichtiger ist es, Merkel umso stärker von Mitte-links aus den richtigen Gründen zu kritisieren, immer und immer wieder, wollen wir nicht nur unsere diskursive Glaubwürdigkeit und Kritikfähigkeit behalten, sondern die Gesellschaft auch zu einem besseren Ort machen.
Wegen der unsachlichen Merkel-Kritik von Rechts jede Regierungs- und somit Merkel-Kritik (!) mit hochgezogener Augenbraue zu betrachten und reflexarig mit einem ironischen "Merkel muss weg!!1" zu kommentieren und somit denkfaul zu delegitimisieren, wie du es gerade mal wieder anschaulich getan hast, macht alles nur noch schlimmer und hilft sicher nicht im Kampf gegen Rechts.

Neben wiederholt Sascha Lobo hat kürzlich auch Margarete Stokowski - beide wohl eher nicht im Verdacht, rechte Wutbürger zu sein - gut erklärt, warum sowas nicht nur kontrafaktisch sondern auch demokratieschädlich ist:

Die Tatsache, dass Merkel wider besseres Wissen eine angemessene Klimapolitik verhindert hat? Dass sie gegen die Korruption in ihrer Partei nicht wirklich etwas unternommen hat? Dass am Ende ihrer Regierungszeit in Deutschland immer mehr Leute in Armut leben, vor allem Kinder und alte Menschen? Dass Merkel bezüglich des Adoptionsrechts für Homosexuelle erklärte, »dass ich mich schwertue mit der völligen Gleichstellung«? Und dass sie gegen die »Ehe für alle« stimmte? Dass sie von Frauenquoten nie was hielt, auch wenn sie dann – recht spät – irgendwann erklärte, Parität erscheine ihr »einfach logisch«? Dass sie Seehofers rassistische Ausfälle hinnahm? Dass die Aufklärung der NSU-Verbrechen unter ihrer Regierung nicht sehr weit kam? Dass trotz ihres »wir schaffen das« weiterhin an den europäischen Außengrenzen so unfassbar viele Menschen sterben? Oder sind es die Rüstungsexporte an Diktaturen? Das Desaster in Afghanistan? (...)

Und wie fortschrittlich ist das, die erste deutsche Kanzlerin nicht danach zu bewerten, was sie politisch geleistet hat, sondern danach, wie charismatisch sie im Vergleich zu ihren indiskutablen Kollegen wirkte? Das ist peinlich und traurig.

Sind das nicht extrem winzige Ansprüche an die mächtigste Frau der Welt? Klar wirkte Merkel oft cool im Vergleich zu den eitlen Gockeln, von denen sie umgeben war. Aber wie tief kann man seine Standards ansetzen? (...)

Linke vermissen Merkel, weil sie nicht wagen, sich vorzustellen, was für ein geiles Leben wir alle haben könnten. Es ist reines Wunschdenken, wenn Merkel jetzt als die feministische, inspirierende Ikone gefeiert wird, die sie nie war. Kurz vor Stockholm-Syndrom, wenn Sie mich fragen. Es ist eine gefährliche Genügsamkeit, die sich da zeigt. Wie innerlich erloschen kann man sein?

Natürlich muss die erste Kanzlerin ein Land nicht binnen 16 Jahren in ein feministisches Paradies verwandeln, nur weil sie eine Frau ist. Aber es gibt noch einiges zwischen »feministischem Paradies« und dem aktuellen Zustand voller Ungleichheit, Ungerechtigkeit und mangelnder Zukunftsfähigkeit. Die politischen Fortschritte, die es in Merkels Regierungszeit gab, sind zu weiten Teilen nicht dank, sondern trotz ihrer Politik passiert.


[https://www.spiegel.de/kultur/zum-abschied-von-angela-merkel-die-kuriose-merkel-verehrung-der-linken-kolumne-a-03d1f4ab-38b1-4623-a8ff-30a074a5f21e]

Ich ergänze noch um die fortschrittsfeindliche Schwarze Null und damit einhergehend auch die von Merkel maßgeblich bestimmte verheerende Austeritätspolitik in Europa.

Angesichts all dessen gerade als Linksliberaler nicht zum schärfsten Merkel-Kritiker zu werden, kann ich mir nur damit erklären, dass einige es mental zu schaffen scheinen, Merkel irgendwie losgelöst von der deutschen Regierung zu betrachten. Nicht Chefin und somit Hauptverantwortliche, sondern eher sowas wie eine über der Regierung schwebende Beobachterin, alles Schlechte immer nur gegen ihren Willen geschehend. Aber auch das wäre dann eigentlich keine gute Kanzlerschaft.


< antworten >