Thema:
Re:96 jährige NS Prozess Angeklagte geflüchtet flat
Autor: Lord Chaos
Datum:04.10.21 16:57
Antwort auf:Re:96 jährige NS Prozess Angeklagte geflüchtet von Telemesse

>>Es gab zig Fälle von Menschen, die auch mit ähnlicher Indoktrination aufgewachsen sind, und dennoch eine rote Linie gezogen haben - das gab es sogar bei Soldaten, die vermutlich nochmals mehr indoktriniert und abgestumpft waren.
>>Mei, Niemand hat ja von ihr verlangt, dass Sie sich dem Widerstand anschließt, aber Sie hätte jederzeit den Job auch kündigen können. Es hätte, und dafür habe ich ja jetzt genug Beispiele verlinkt, keine großartigen Konsequenzen für Sie gehabt, zumindest wäre Sie dafür nicht in das nächste Lager gekommen.
>>
>Woher weißt du denn wer wo seine rote Linie gezogen hat?


Meinst du das jetzt generell? Es gibt ja durchaus nachlesbare Beispiele, und auf meine Familie bezogen - bei meinem nicht leiblichen väterlicherseits Großvater weiss ich, dass er Teil eines Erschiessungskommandos in der Wehrmacht war, und er hat uns gegenüber auch zugegeben, dass er nicht absichtlich weg geschossen hat und ja, zu dem Zeitpunkt auch Angst davor hatte, dass wenn er sich geweigert hätte, er der Nächste gewesen wäre, der an der Wand gestanden hätte.

Bei meinem Urgroßvater mütterlicherseits verhält es sich so, dass dieser als strammes SPD Mitglied und in Funktion für die Partei bereits 33 nachts abgeholt und längere Zeit festgehalten wurde.
Er wurde zwar wieder freigelassen, da er aus seiner Meinung über die NSDAP wie auch Hitler keinen Hehl gemacht hat, kam er kurz vor Kriegsbeginn nach Dachau, wo er dann offiziell an Lungenentzündung gestorben ist.

Und von meiner Oma weiß ich auch, was für eine Tortur meine Urgroßmutter durchmachen musste, weil ihr Mann als Volksfeind galt, da gab es nicht einmal Unterstützung seitens der Kirche, die wurde auf jede erdenkliche Art und Weise geschnitten und musste schauen, wie Sie 2 Kinder durchbringt. Und ich kann dir auch gern schildern, wie schnell sich teils dieselben Leute, die meine Urgroßmutter nicht mit dem Arsch angeschaut haben, nach 45 dann bemüht haben, dass meine Uroma ein gutes Wort für Sie einlegt.

>Ich hab mal versucht über dieses generelle Phänomen mit meinem Opa zu sprechen. Der war Baujahr 1900 und sowohl in WK1 als auch in WK2 im Einsatz. 1945 sind die dann aus Schlesien Richtung Norddeutschland geflüchtet. Leider hat er nie etwas über Kriegserlebnisse erzählt, er war in der Hinsicht, wie viele andere auch sehr verschlossen. Das einzige was er mir mal sagte, war das er soviel Grausames gesehen habe, häufig dachte niemals wieder lebend nach Hause zu kommen und einfach nur irgendwie funktionierte/überlebte. Er meinte das das niemand begreifen könne, der das nicht selbst erlebt hat. Jedenfalls wollte er nie darüber sprechen und das ganze nur vergessen. Darüber ob er selber auch Dreck am Stecken hatte kann ich nur spekulieren,  ausschließen kann ich es jedenfalls allerdings nicht. Mein Opa war später absoluter Pazifist und wollte auf keinen Fall das eines seiner (7) Kinder jemals wieder zum Militär muss. Seinen ältesten Sohn überzeugte er sogar zur Auswanderung nach Canada als in den 50er Jahren die Wehrpflicht wieder eingeführt wurde.
>
>Was ich damit eigentlich sagen möchte: Der Krieg verändert die Person und bringt Verhaltensweisen zu Tage, die man Menschen niemals zutrauen würde. Niemand weiß wie er sich selbst in so einem Umfeld unter damaligen Bedingungen verhalten hätte. Die meisten wären wohl genauso mitgelaufen und hätten sich mehr oder weniger aktiv oder passiv beteiligt oder eben angepasst und einfach nur irgendwie funktioniert und versucht nicht aufzufallen. Und das insbesondere Frauen im äußerst patriarchalisch aufgebauten Nationalsozialismus tatsächlich große Wahlfreiheiten gehabt hätten, halte ich auch mal für eine nicht zutreffende Mutmaßung.


Ich verstehe deinen Punkt schon, und ja, es werden nicht alle Deutsche glühende Nazis gewesen sein, das habe ich auch nicht behauptet. Ebenso ist mir klar, dass der Krieg, speziell wenn wir hier von Soldaten sprechen, Menschen verändern kann und Verhaltensweisen an den Tag bringen kann.

Aber wofür ich halt kein Verständnis habe - für jeden, der in einem KZ oder Vernichtungslager gearbeitet hat, was in fast jedem Fall freiwilliger Natur war. Und noch weniger dafür, dass es aus vielen Ecken dann nur "ich hab nur Befehle befolgt" zum Hören bekommen hast, selbst unter dem Gesichtspunkt, dass man a) indoktriniert wurde und b) Angst um den eigenen Arsch hatte, man hatte jetzt mehr als 70 Jahre Zeit, sich davon klar zu distanzieren und nur die Allerwenigsten hatten dafür genug Arsch in der Hose.

Generell geht mir dieses Wegschieben von Verantwortung, auch bei Zivilpersonen, mächtig gegen den Senkel - weil das einfach viel zu lange der Fall war. Ebenso wie "das ist ja schon alles so lange her..". Ist es eben nicht.

Die Nazis sind nicht irgendwie mit Flugscheiben 33 gelandet und haben das Land zwangsbesetzt, die sind im Rahmen einer demokratischen Wahl an die Macht gekommen und große Teile der Bevölkerung haben das, was die Nazis veranstaltet haben, auch freiwillig mitgetragen.
Inzwischen gibt es zig Forschungen zu dem Thema die belegen, wie gut informiert weite Teile der Bevölkerung bezüglich der Judenverfolgung und anderen Verbrechen waren, es gab zig Denunziationen innerhalb der Bevölkerung, die Gestapo kam teils gar nicht nach, den vielen Tipps aus der Bevölkerung nachzugehen.
Es ist nachgewiesen, wie sehr auch die "normale" Bevölkerung von Enteignungen und Co. profitiert haben, für kleines Geld den Hausrat von Juden aufgekauft haben, teils sich sogar proaktiv bei den Verantwortlichen gemeldet haben, um einen Anspruch anzumelden.

Man hat da viel zu lange weggeschaut, bzw. wollte gern Gras über die Sache wachsen lassen, es gab Historiker, denen es um die Ohren geflogen ist, als diese sich diesem Thema in den 60ern und 70ern angenommen haben, während Täter, und damit meine ich jetzt nicht den Landser XY, hier Karriere machen konnten. Und das alles schön auch von den Verantwortlichen in der Regierung und/oder Justiz bis in die 80er Jahre mitgetragen wurde.

Von Dingen wie das unwürdige Gezerre um die finanzielle Entschädigung von Zwangsarbeiten oder dass tatsächlich erst 1982(!!!!) der Völkermord an Sinti und Roma anerkannt wurde, will ich gar nicht erst anfangen.

Und ja, deswegen kann ich auch damit gut leben, dass man eine Frau über 90, die in einem KZ gearbeitet und bis heute kein "es tut mir leid" zu hören bekommen hat, entsprechend verknackt, auch wenn ich mir gut vorstellen kann, dass die Strafe lediglich symbolischer Natur sein wird und gute Chancen bestehen, dass Sie nicht in den Knast muss aus gesundheitlichen Gründen.
Und selbst wenn Sie einfahren würde - mein Mitleid würde sich sehr in Grenzen halten, denn Sie kommt, im Gegensatz zu den vielen Menschen, die unter den Nazis verhaftet, gestorben, misshandelt oder was auch immer wurden, im Genuss eines echten Rechtsstaates.


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