Thema:
Re:wie ist Eure Sicht? flat
Autor: Droog
Datum:16.08.21 17:53
Antwort auf:Re:wie ist Eure Sicht? von Pjotr

>>bin da zwiegespalten. Sehe es zwar bei weitem nicht so wie Pjotr oder Koepi, die die Afghanen ja letztlich als im Mittelalter verhaftet und nicht lernfähig darstellen, aber man muss einsehen, dass in der langen Zeit keine nachhaltigen und belastbaren Strukturen aufgebaut wurden. Es muss immer Hilfe zur Selbsthilfe sein, man kann nicht ewig ein Land besetzen, und auch nicht arrogant "umerziehen" wollen.
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>Das Problem ist nicht nur, dass man keinen belastbaren neuen Strukturen aufgebaut hat. Das Problem ist vielmehr, dass man traditionelle feudalistische Strukturen nicht zerstört hat. Diese feudalistischen Strukturen waren seit jeher die Crux, und der Grund warum der afghanische Bürgerkrieg überhaupt erst begann.
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>Der afghanische Bürgerkrieg begann im Folge einer Modernisierungs- und Zentralisierungskampagne der PDPA und entzündete sich an Programmpunkten wie Landreform, Frauenrechten und Säkularisierung. Diese Reformen unterminierten die traditionellen kulturellen Institutionen und Machtstrukturen im ländlichen Afghanistan und wurden ergo von den alten Eliten (vom Dorfältesten, über den Imam, bis zu den Stammesvertretern) gewaltsam bekämpft. Auf der anderen Seite wären diese Reformen essentiell für das Bestehen Afghanistans als modernen Staat. Eines steht deshalb fest: man kann nicht beides gleichzeitig haben.
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>Aber genau dies ist während der US Besatzung passiert. Man mag Schulen und Krankenhäuser gebaut haben, aber man hat sich letztendlich in vielen Regionen auf die alten Eliten verlassen. Bei einem grossen Teil der afghanischen Armee handelt es sich zum Beispiel nur um umgetaufte Stammesmilizen. Diese alten Eliten haben kein grundsätzliches Interesse an Afghanistan als modernen Staat, denn der Modernisierungprozess kommt zwingend mit ihrem Machtverlust daher. Auf der anderen Seite bestand die afghanische Zentralregierung (= die neuen Eliten) letztendlich aus westlich-neoliberalen Technokraten und deren Unterlinge waren einfach nur Opportunisten. Es bestand demnach sehr wenig Ideologisierung (z.B. bezüglich eines neuen afganischen Nationalismus) im neuen Staatsapparat. Man hat also letztendlich eine ineffiziente, korrupte Administration ohne "true believers" auf eine alte Feudalstruktur, die durch einen modernen afghanischen Staat nichts zu gewinnen hat, raufgeploppt. Natürlich funktioniert das nicht.
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>Man sollte sich letztendlich ins Gedächtnis rufen, dass die PDPA und die Sowjets, sofern es um die Verwandlung Afghanistans in einen modernen Nationalstaat geht, um einiges bessere Karten hatten. Hätten die Rebellen nicht so starke finanzielle, technologische und logistische Unterstützung von den USA, den Europäern und den Golfstaaten gehabt, sähe Afghanistan heute ganz anders aus. Das liegt an zwei Dingen: (1) die Kommunisten hatten keine Probleme damit in die Dörfer zu gehen, den Dorfältesten zu erschiessen und die Moschee abzubrennen, d.h. die traditionalistischen Strukturen Afghanistans brutal zu entwurzeln, und (2) die Kommunisten hatten stark ideologisierte Kader (inklusive Soldaten), die die alten Strukturen zumindest teilweise ersetzen konnten. Es ist möglich traditionalistische Gesellschaften schnell zu modernisieren, aber diese Modernisierungskampagnen müssen brutal durchgesetzt werden, und sind deshalb schlichtweg inkompatibel mit westlichen Auffassungen vom Kriegsführung.



Mich interessiert, warum du "Nationalismus" als Option für einen modernen Staat in Erwägung ziehst.


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