Thema:
Gebärdensprache wäre vielleicht erstmal wichtiger... flat
Autor: REDDF1VE
Datum:21.07.21 09:52
Antwort auf:Gendern... von TOM

Vorweg: Wahrscheinlich wird mir hier erstmal Whataboutism vorgewerfen, und ganz falsch ist das vielleicht nicht.

Aber ich bin da eben mit einer gehörlosen Schwester auch sicher nicht ganz objektiv in dem Thema. Also gegen Gendern usw. bin ich generell aufgeschlossen. Dennoch finde ich teilweise schwer zu ertragen, wie viel Gewese um das Thema in der Öffentlichkeit gemacht wird. Es wäre schön, wenn auch Gebärdensprache ein Thema in der Öffentlichkeit wäre, dass hier ist aus meiner Sicht der Need einfach deutlich höher.

Mal ein Beispiel: Irgendwie geht gerade das Thema rum, dass Lufthansa ihr Kunden und Kundinnen nicht mehr mit "Damen und Herren" ansprechen möchte, z.B. bei den Durchsagen im Flieger. Damit sich Menschen, die sich keinem Geschlecht zugeordnet fühlen nicht ausgeschlossen fühlen. Ok, kann man ja machen. Aber: Ist denn vielleicht mal ein Thema, dass die Durchsagen im Flieger auch mit Gebärdensprache übersetzt werden? Durchsagen wie "Der Abflug verzögert sich um 15 Minuten, weil bla bla bla..." bekommt meine Schwester im Flieger im Zweifel einfach mal gar nicht mit. Das finde ich eine deutlich größere Diskriminierung, als ein "Damen und Herren". Der Geschlechts-Unsichere fühlt sich vielleicht einen Tick weniger angesprochen, aber er bekommt dennoch alle für ihn wichtigen Infos.

Gehörlose werden durch fehlende Gebärdensprache in Deutschland noch so oft diskriminiert indem viele Angebote gar nicht wahrnehmen können. Ich bin nur froh, dass mittlerweile z.B. selbst kleine Bahnhöfe Anzeigentafeln haben. Noch vor ein paar Jahren war meine Schwester immer aufgeschmissen, wenn Verspätungen oder Gleiswechsel nur per Durchsage mitgeteilt wurden. Dennoch: Viel Glück, von irgendwelchen Verspätungen zu erfahren, wenn du als gehörlose Person schon IM Zug bist und es vielleicht nicht gerade ein ICE sondern einfach nur eine U-Bahn oder Regionalzug ist. Da heißt es immer noch: Wer nicht hören kann, hat eben Pech gehabt.


In einigen Situation, z.B. bei Gerichtsterminen, hat meine Schwester ein Anrecht auf einen Gebärden-Dolmetscher. Aber es kommt durchaus vor, dass es heißt: "Sorry, aber es steht für diesen Termin leider kein Dolmetscher zur Verfügung. Kann ihre Mutter sie nicht stattdessen vielleicht begleiten?" Nicht, dass meine Mutter wegen der ganzen Scheiße nicht eh schon Burnout usw. hinter sich hat und eigentlich eine 34 jährige Frau wie meine Schwester nicht mehr so oft ihre Eltern um Hilfe fragen müssen sollte, weil der Staat da zu wenig macht.

Und auch sonst im Alltag werden Gehörlose gerne vergessen. Zum Glück gibt es heute Handys usw. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für eine unheimlich wichtige Sache damals die SMS war. Für uns Hörende eigentlich fast eher ein Gimmick, war es für uns nahezu essentiell, dass auch meine Schwester in ihrer Jugend mal auf Parties konnte usw. und im Zweifel einfach telefonischen Kontakt zu uns aufbauen konnte, was vorher schlicht nicht möglich war.

Und ja auch einiges Andere (Untertitel im TV, Phoenix, usw) sind Schritte in die richtiger Richtung, aber u.a. in der Politik sehe ich häufig bei Reden und Diskussionen noch keinen Gebärden-Dolmetscher (die Linken und die Grünen sind hier glaube ich am besten aufgestellt).

Also es ist ja vielleicht schön, dass die Lufthansa auf das "Damen und Herren" verzichten möchte, ein paar Worte weg zu lassen, kostet ja auch kein Geld. Noch schöner wäre es halt, die Lufthansa hätte auf jedem Flug einen Flugbegleiter oder eine Flugbegleiterin, die Gebärdensprache beherrscht. Oder die Bahn würde mal darüber nachdenken, wie sie gehörlose Personen besser informieren kann.

Und ich muss auch sagen: Ist das "Damen und Herren" für Geschlechtsneutrale wirklich so ein Pain? Oder wird das von uns nicht-betroffenen manchmal vielleicht gar zu sehr als Wichtigkeit angesehen?

Denn: Als 14-Jähriger fühlte ich mich von "Meine Damen und Herren" in der Tagesschau oder im Flugzeug auch nicht angesprochen. Als Jugendlicher war ich sicherlich kein Herr. Dennoch ging dadurch für mich die Welt nicht unter und ich konnte trotzdem in meiner Jugend die Tagesschau konsumieren, ohne mich als "zu jung" ausgegrenzt und nicht angesprochen gefühlt zu haben.

Wie man schon merkt: Auch wenn das Gefühl falsch ist, entsteht manchmal bei mir geradezu schon ein gewisser Neid, wie sehr in der Gesellschaft darüber debattiert wird, wie man mit Menschen umgeht, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, aber wie wenig das seit Jahrzehnten stiefmütterlich behandelte Thema Gebärdensprache irgendwen interessiert. Dabei ist das Problem natürlich nicht, dass zu sehr über Geschlechtsneutrale nachgedacht wird, sondern zu wenig über Gehörlose. Das weiß ich ja objektiv. Nur sind Emotionen leider nicht immer objektiv...

Das wollte mal loswerden und vielleicht manch einen von für euch auch ein klein wenig für das Thema "Gebärdensprache in Deutschland" sensibilisieren.


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