Thema:
Re:Ich verstehe sie nicht. flat
Autor: peppi
Datum:15.04.21 11:25
Antwort auf:Re:Ich verstehe sie nicht. von Atlan

>Wagenknecht kritisiert den neoliberalen Mainstream in Politik und Medien, der sich mit der oberflächlichen Unterstützung von Identitätspolitik ein menschlicheres, "linksliberales" Antlitz zu geben versucht, während er in der Praxis weiterhin wirtschaftlich rechte Politik macht, die all diesen Menschen schadet. Sie kritisiert NICHT grundsätzlich jede Identitätspolitik oder gar Aktivisten an sich. Sondern nur den Mißbrauch dieser an sich guten (und ursprünglich ja linken, antikapitalistischen!) Themen als Feigenblatt und Nebelkerze durch den progressiven Neoliberalismus, um den ausbeuterischen und klassistischen Status Quo aufrecht erhalten zu können, indem er das Stellen der Systemfrage und Klassenpolitik mit Hilfe einer Atomisierung der Gesellschaft in unzählige streitende Partikularinteressen untergräbt. Divide et impera. Der Neoliberalismus liebt Identitätspolitik. Zumindest deren oberflächliche Erscheinung in den Konzernmedien und neoliberalen Parteien (zu denen spätestens seit der Agenda 2010 ja leider auch die Führung der Sozialdemokraten sowie inzwischen auch weite Teile des grünen Establishments gehören).

Wenn sie das wollte, ist sie krachend gescheitert, imo. Wer so undifferenziert um sich schlägt, muss sich echt nicht wundern, wenn dabei nix rum kommt.

>Das bedeutet nun aber nicht, dass Identitätspolitik schlecht ist, sondern dass man sie ihr dem Neoliberalismus wieder entreißen muss. Weil Identitätspolitik nur erfolgreich sein kann, wenn sie mit dem Stellen der Klassen- und Systemfrage einhergeht. Eine gerechtere Gesellschaft innerhalb des neoliberalen Systems ist unmöglich, da seine Grundlage immer Ausbeutung der (bunten) Mehrheit ist durch eine homogene Minderheit ist. Plakativ: Die Gesellschaft wird nicht besser, nur weil Niedriglohn-Arbeitssklavinnen genderkonform von ihrem Ausbeuter angesprochen werden oder ein paar priviliegierte Frauen Konzernchefinnen werden können, um anschließend alle anderen Menschen genau so auszubeuten wie ihre männlichen Kollegen. Aber im neoliberalen, partriarchalen Kapitalismus bleibt auch ihnen gar nichts anderes übrig, weil die zugrundeliegenden Systemzwänge unangetastet bleiben (und ja eh nur Menschen nach oben kommen, die das System nicht in Frage stellen, egal welcher Identität).
>
>Weite Teile des pseudo-linken, "linksliberalen" Mainstreams (progressiver Neoliberalismus) in Politik (Agenda2010-SPD und -Grüne etc.) und (Konzern-)Medien stellen genau diese Fragen seit geraumer Zeit aber nicht mehr, reden stattdessen (scheinbar?) fast nur noch über identitätspolitische Themen. Zumindest kommt es offenbar bei vielen Menschen so an. Das muss sich ändern, will man die Arbeiter- und untere Angestelltenklasse wieder zurückgewinnen UND zugleich für identitätspolitische Themen begeistern. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Das muss man nicht gutfinden, aber man muss es realpolitisch zur Kenntnis nehmen, sonst gibt man den Rechten einen Freifahrtsschein bei der ursprünglich kernlinken Wählerschaft. DAS ist Wagenknechts Position.


Ich glaube zu wissen wen du meinst (auch wenn ich diese holzschnittartige Lifestyle-Linke nicht kenne, [Edit: erinnert mich an Prenzlauer Berg Beschreibungen bei Anke Stelling, [https://www.perlentaucher.de/buch/anke-stelling/schaefchen-im-trockenen.html]), welche Positionen du meinst, und würde die Analyse auch weitestgehend unterschreiben, habe aber den Eindruck (Buch nicht gelesen! Anhand der Reaktionen), dass Wagenknecht in hohem Bogen über dashinaus schießt, was du echt gut beschrieben hast.

Ich habe das Buch wie geschrieben nicht gelesen, bin aber, und das passt sehr schön, über folgende Kritik von Stefan Reinecke in der taz gestolpert:

Auch Sahra Wagenknecht treibt die Frage um, warum die gesellschaftliche Linke partout nicht mehrheitsfähig wird. Sie knüpft in ihrer Streitschrift „Die Selbstgerechten“ an Frasers Kritik an und radikalisiert sie bis zur Unkenntlichkeit. Denn bei ihr sind der giftige Neoliberalismus und der nur scheinbar menschenfreundliche Linksliberalismus fast das Gleiche.

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Der Linksliberalismus, dessen toxische Wirkungen hier mannigfach besungen werden, bleibt dabei eine vage Erscheinung. Mal wird er mit radikaler Identitätspolitik gleichgesetzt, mal mit urbanen Milieus, mal mit allen Mitte-links-Parteien. So werden alle Katzen grau. Sogar Gerhard Schröder taucht mal als Stammvater der Lifestyle-Linken auf, die „hypersensible Rücksichtnahme in Sprachfragen“ mit der „Entfesslung von Renditemacherei“ verbanden.

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In der Welt, die uns hier als bessere empfohlen wird, haben Nationalstaaten das Sagen, die Ökonomie funktioniert eher national denn global. Und Migration gibt es kaum. Wagenknechts Arkadien ist eine Republik ohne Moscheen, Genderpolitik und Quoten und ähnelt stark der Bundesrepublik vor 50 Jahren. Daran ändert auch die pflichtschuldige Anmerkung nichts, dass die Losung „Zurück in die Siebziger“ als „Zukunftsentwurf“ nicht so recht tauge.

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„Fridays for Future“ und „unteilbar“ werden im Vorbeigehen als lächerliche Wohlfühlbewegungen von Bürgerkindern verhöhnt, Coronaproteste hingegen mit freundlichen Worten bedacht. Diese Sympathieverteilung ist für eine Spitzenpolitikerin der Linkspartei erstaunlich. Eine Bewegung fehlt dabei übrigens – „Aufstehen“. Diese von Wagenknecht mit initiierte Bewegung kam ihrem sozialkommunitaristischem Programm nahe und scheiterte kläglich. Warum? Dazu findet sich auf 345 Seiten kein Wort.


[https://taz.de/Neues-Buch-von-Sahra-Wagenknecht/!5764480&s=wagenknecht/]

Sie verachtet die Moralkeule und ballert dann, mit ihrem Meta-Moral-Maschinengewehr, alles über den Haufen, was damals nicht mit aufgestanden ist.

>Thema Deutsche Wohnen Enteignen ist doch ein gutes Beispiel:
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>Schau doch mal auf SPON, das Paradebeispiel des progressiven Neoliberalismus und Status-Quo-Wahrens im linksliberalen Mäntelchen und ähnliche Medien. Jedes identitätspolitische Thema wird umjubelt, der kleinste Kram und Twitter-Shitstorm bekommt einen wohlwollenden Artikel, es ist jeden Tag irgendwas zu lesen, mit dem man sich als fortschittlich bezeichnen kann. Nicht falsch verstehen, das ist an und für sich ja auch gut so!
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>Und jetzt schau dir mal an, wie viele Artikel im Vergleich dazu zu Forderungen nach höheren Gehältern, mehr Sozialleistungen oder eben Mietendeckel und mehr sozialem Wohnraum erscheinen. Höchstens ein Bruchteil. Und wie diese Themen hingegen dann meist auch noch be- bzw. verurteilt werden: Von "unrealistisch", da nicht finanzierbar bis hin zu drohenden stalinistischen Gulags ist da alles vertreten.
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>Und sowas bezeichnet sich dann trotzdem als "links"liberal und moralisch dem Pöbel überlegen. Das sind diese neoliberalen Lifestyle-"Linken", die Wagenknecht kritisiert. Der progressive Neoliberalismus ist NULL links - trotz Identitätspolitik.
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>Bundespolitisch ist das Äquivalent dazu die Schröder-SPD, Schuldenbremse-Scholz und heute leider auch Teile der Grünen. In den USA wäre es Hillary Clinton, die sich als Feministin bezeichnet aber gleichzeitig die Frage nach kostenfreiem Universitätszugang nur lachend als nicht finanzierbare, unrealistische Träumerei abtut. Und Sanders einen veralteten Spinner nennt, der sich nicht genug für LGBTQ einsetze, weil er eben (wie Wagenknecht) anderen Themen den Vorrang gibt und sie auch einfach als Voraussetzung für eine erfolgreiche Identitätspolitik sieht.
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>Der progressive Neoliberalismus spielt Identitätspolitik und Klassenpolitik gegeneinander aus. Nicht Wagenknecht oder Sanders. Diese betrachten es als wechselseitige Bedingung mit der Systemfrage als Grundlage.


Auch hier: echt gut beschrieben. Wobei ich Schröder, den ich als Frauenhasser im Kopf habe, hier irgendwie nicht so recht einordnen kann.

Bei Sanders wäre ich übrigens sofort dabei:

[https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/obszoene-ungleichheit]

Bei Wagenknecht so gar nicht. Ein paar Zitate aus ihrem Buch:


Die Identitätspolitik läuft darauf hinaus, das Augenmerk auf immer kleinere und immer skurrilere Minderheiten zu richten, die ihre Identität jeweils in irgendeiner Marotte finden, durch die sie sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und aus der sie den Anspruch ableiten, ein Opfer zu sein.


Das ist einfach nur eklig.

Dass die Löhne allerdings in vielen Branchen um bis zu 20 Prozent sanken und selbst ein jahrelang anhaltendes Wirtschaftswachstum daran nichts ändern konnte, das war allein wegen der hohen Migration nach Deutschland möglich. Denn nur sie stellte sicher, dass die Unternehmen die Arbeitsplätze zu den niedrigen Löhnen unverändert besetzen konnten.

Und das ist sowas von hohl - das kann ich ihr gar nicht abnehmen. Hier wälzt sie ein strukturelles Merkmal des Kapitalismus auf Leute ab, die nun wirklich überhaupt nix dafür können, dass wir es nicht schaffen, ordentliche Arbeitsverhältnisse zu schaffen. Was soll das sein: die importierte Reservearmee des Neoliberalismus? Puh.

Habe ich in folgendem Interview gefunden:

[https://taz.de/Linken-Politiker-ueber-Sahra-Wagenknecht/!5764666/]


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