Thema:
Re:Ich verstehe sie nicht. flat
Autor: Atlan
Datum:14.04.21 16:26
Antwort auf:Ich verstehe sie nicht. von peppi

Wagenknecht kritisiert den neoliberalen Mainstream in Politik und Medien, der sich mit der oberflächlichen Unterstützung von Identitätspolitik ein menschlicheres, "linksliberales" Antlitz zu geben versucht, während er in der Praxis weiterhin wirtschaftlich rechte Politik macht, die all diesen Menschen schadet. Sie kritisiert NICHT grundsätzlich jede Identitätspolitik oder gar Aktivisten an sich. Sondern nur den Mißbrauch dieser an sich guten (und ursprünglich ja linken, antikapitalistischen!) Themen als Feigenblatt und Nebelkerze durch den progressiven Neoliberalismus, um den ausbeuterischen und klassistischen Status Quo aufrecht erhalten zu können, indem er das Stellen der Systemfrage und Klassenpolitik mit Hilfe einer Atomisierung der Gesellschaft in unzählige streitende Partikularinteressen untergräbt. Divide et impera. Der Neoliberalismus liebt Identitätspolitik. Zumindest deren oberflächliche Erscheinung in den Konzernmedien und neoliberalen Parteien (zu denen spätestens seit der Agenda 2010 ja leider auch die Führung der Sozialdemokraten sowie inzwischen auch weite Teile des grünen Establishments gehören).

Das bedeutet nun aber nicht, dass Identitätspolitik schlecht ist, sondern dass man sie ihr dem Neoliberalismus wieder entreißen muss. Weil Identitätspolitik nur erfolgreich sein kann, wenn sie mit dem Stellen der Klassen- und Systemfrage einhergeht. Eine gerechtere Gesellschaft innerhalb des neoliberalen Systems ist unmöglich, da seine Grundlage immer Ausbeutung der (bunten) Mehrheit ist durch eine homogene Minderheit ist. Plakativ: Die Gesellschaft wird nicht besser, nur weil Niedriglohn-Arbeitssklavinnen genderkonform von ihrem Ausbeuter angesprochen werden oder ein paar priviliegierte Frauen Konzernchefinnen werden können, um anschließend alle anderen Menschen genau so auszubeuten wie ihre männlichen Kollegen. Aber im neoliberalen, partriarchalen Kapitalismus bleibt auch ihnen gar nichts anderes übrig, weil die zugrundeliegenden Systemzwänge unangetastet bleiben (und ja eh nur Menschen nach oben kommen, die das System nicht in Frage stellen, egal welcher Identität).

Weite Teile des pseudo-linken, "linksliberalen" Mainstreams (progressiver Neoliberalismus) in Politik (Agenda2010-SPD und -Grüne etc.) und (Konzern-)Medien stellen genau diese Fragen seit geraumer Zeit aber nicht mehr, reden stattdessen (scheinbar?) fast nur noch über identitätspolitische Themen. Zumindest kommt es offenbar bei vielen Menschen so an. Das muss sich ändern, will man die Arbeiter- und untere Angestelltenklasse wieder zurückgewinnen UND zugleich für identitätspolitische Themen begeistern. Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Das muss man nicht gutfinden, aber man muss es realpolitisch zur Kenntnis nehmen, sonst gibt man den Rechten einen Freifahrtsschein bei der ursprünglich kernlinken Wählerschaft. DAS ist Wagenknechts Position.

Thema Deutsche Wohnen Enteignen ist doch ein gutes Beispiel:

Schau doch mal auf SPON, das Paradebeispiel des progressiven Neoliberalismus und Status-Quo-Wahrens im linksliberalen Mäntelchen und ähnliche Medien. Jedes identitätspolitische Thema wird umjubelt, der kleinste Kram und Twitter-Shitstorm bekommt einen wohlwollenden Artikel, es ist jeden Tag irgendwas zu lesen, mit dem man sich als fortschittlich bezeichnen kann. Nicht falsch verstehen, das ist an und für sich ja auch gut so!

Und jetzt schau dir mal an, wie viele Artikel im Vergleich dazu zu Forderungen nach höheren Gehältern, mehr Sozialleistungen oder eben Mietendeckel und mehr sozialem Wohnraum erscheinen. Höchstens ein Bruchteil. Und wie diese Themen hingegen dann meist auch noch be- bzw. verurteilt werden: Von "unrealistisch", da nicht finanzierbar bis hin zu drohenden stalinistischen Gulags ist da alles vertreten.

Und sowas bezeichnet sich dann trotzdem als "links"liberal und moralisch dem Pöbel überlegen. Das sind diese neoliberalen Lifestyle-"Linken", die Wagenknecht kritisiert. Der progressive Neoliberalismus ist NULL links - trotz Identitätspolitik.

Bundespolitisch ist das Äquivalent dazu die Schröder-SPD, Schuldenbremse-Scholz und heute leider auch Teile der Grünen. In den USA wäre es Hillary Clinton, die sich als Feministin bezeichnet aber gleichzeitig die Frage nach kostenfreiem Universitätszugang nur lachend als nicht finanzierbare, unrealistische Träumerei abtut. Und Sanders einen veralteten Spinner nennt, der sich nicht genug für LGBTQ einsetze, weil er eben (wie Wagenknecht) anderen Themen den Vorrang gibt und sie auch einfach als Voraussetzung für eine erfolgreiche Identitätspolitik sieht.

Der progressive Neoliberalismus spielt Identitätspolitik und Klassenpolitik gegeneinander aus. Nicht Wagenknecht oder Sanders. Diese betrachten es als wechselseitige Bedingung mit der Systemfrage als Grundlage.


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