Thema:
Re:Man muss sich das Versagen langsam mal eingestehen. flat
Autor: Bozbar!
Datum:08.01.21 16:22
Antwort auf:Re:Man muss sich das Versagen langsam mal eingestehen. von Doc Ower

>Und wer verbietet und definiert, was okay ist und was nicht? Und in welcher Form Kritik dann Kritik ist und ab wann verbotener Extremismus?
>
>Kein Trolling, mich würde deine Sicht da wirklich interessieren.


Die Autoritäten.

Zu dem Thema gibt es ein IMHO sehr interessantes Interview mit Emmanuel Macron in der aktuellen Zeit (bzw. mit dem Magazin L’Express, aus dem die Zeit Auszüge übersetzt hat).

[https://www.zeit.de/2021/02/emmanuel-macron-frankreich-praesident-terrorismus-lexpress]

Aktuell noch hinter der Paywall, daher zitiere ich hier mal ein paar Aussagen:

"Frage: Die Pandemie hat anscheinend einige verborgene Instinkte ans Licht gebracht, zu den stärksten gehört der ständige Zweifel. Beunruhigt Sie die Erkenntnis, dass ein historisch eher rational agierendes Volk plötzlich an kleine oder große Verschwörungstheorien glaubt?

Macron: Der Zweifel macht mir weniger Sorgen, er kann Fortschritt und Erkenntnis befeuern, vielmehr ist es der Relativismus, ich würde sogar sagen, der Obskurantismus. Im Grunde ist das, was wir gerade sehen, ein prometheisches Schicksal. Unsere Gesellschaft ist daran gewöhnt, in einer Zeit des Friedens, des andauernden und immer wachsenden Wohlstands zu leben, und sie wird sich jetzt durch die Klimakrise und den Terrorismus ihrer eigenen Verletzlichkeit bewusst. Das Besondere an der Pandemie ist, dass sie uns die Verletzlichkeit im Alltag und im Privatleben spüren lässt. Jedem Einzelnen ist klar geworden, dass jeder Mensch auf der ganzen Welt getroffen werden kann. In unserer jüngeren Geschichte ist so etwas noch nie da gewesen. Dieser Herausforderung stellt sich die Wissenschaft. Ich bewundere ihre Leistungen. Nie in der Geschichte gab es so etwas: Ein neues Virus taucht auf, und nicht einmal ein Jahr später ist ein Impfstoff da. Aber auch die Wissenschaft wird von Zweifeln nicht verschont.
Denn wenn das eigene Leben auf den Kopf gestellt und der Alltag über den Haufen geworfen wird und die Nachrichten und die sozialen Netzwerke von wissenschaftlichen Kontroversen beherrscht werden, dann wird die Unruhe enorm. Ich sehe das Hauptproblem darin, dass in einer Gesellschaft, in der permanent kommentiert wird, jede Hierarchie zunichtegemacht wird: dass alles gilt, dass alle Äußerungen gleichwertig sind, ob sie nun von jemandem kommen, der sich im Fach nicht auskennt, aber eine Meinung zu dem Virus hat, oder von einem kompetenten Wissenschaftler. Das ist das Gift. Seit Jahren sehen wir es in der Politik – besonders klar wurde es während der Gelbwestenkrise, als gewählte Volksvertreter in einer abenteuerlichen Verdrehung der Realität als illegitim abgestempelt wurden. Wir beobachten dieses Phänomen jetzt auch in der Wissenschaft.

Frage: Wir zahlen Ihrer Meinung nach einen Preis dafür, dass es keine Hierarchien mehr gibt?

Macron: Ja, denn die gleichmacherische Gesellschaft stürzt Autoritäten in die Krise. Kritisch wird es, wenn diese Krise die Wissenschaft erfasst, die eigentlich endgültige Wahrheiten liefern soll, an denen man sich festhalten kann, wie provisorisch und unvollkommen sie auch sein mögen. Die psychologischen und gesellschaftlichen Konsequenzen sind fürchterlich, denn am Ende glaubt man an gar nichts mehr. Da haben wir den Teufelskreis: Eine Gleichmacherei, die zum Skeptizismus führt, erzeugt Obskurantismus. Der steht im Gegensatz zum kartesianischen Fundament des rationalen Denkens und der Wahrheit, und so entstehen Verschwörungstheorien. Das ist nicht mehr "Ich zweifle, also bin ich". Das ist: Ich zweifle, also klammere ich mich an ein kollektives Narrativ, das vielleicht falsch und unbegründet ist, sich aber wenigstens solide anfühlt. Alle heutigen Gesellschaften erleben diese Art der Gleichmacherei, jede Autorität wird angefochten, und eben selbst die der Forschung und der Wissenschaft."

Das Phänomen, dass heute wirklich jeder eine Meinung zu einem Thema haben und verbreiten kann, auch wenn er erwiesenermaßen überhaupt keine Ahnung von dem Thema hat, und diese Meinung dann von vielen Menschen übernommen wird, halte ich für ein sehr großes Problem.


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