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Re:Apple will weiter mit Zwangsarbeiterinnen produzieren flat
Autor: Atlan
Datum:23.11.20 16:38
Antwort auf:Re:Apple will weiter mit Zwangsarbeiterinnen produzieren von Droog

Ich weiß, du meinst es nicht so und bist dir dessen wahrscheinlich auch gar nicht bewusst: Aber letzten Endes redest du damit noch mehr Neoliberalismus den Mund. Also noch mehr Entpolitisierung und noch mehr Individualisierung als ohnehin schon. Aber wir sehen doch, wohin uns diese Vereinzelung in jeder Hinsicht in den letzten 30 Jahren gebracht hat. Die Leute sind auf breiter Ebene so aufgeklärt (und moralisch!) wie nie, fast jeder findet Massentierhaltung und Umweltverschmutzung scheiße, trotzdem gehen Fleisch- oder auch SUV-Verkäufe immer weiter nach oben, um nur zwei Beispiele zu nennen. Und NIEMAND meint es böse, fast jeder hätte es gerne besser.

Aber wenn jeder an sich denkt (und dazu zählt ironischerweise auch achtsamerer Individualkonsum) ist eben NICHT an alle gedacht. Der Markt (der die Marktteilnehmer mit einschließt) regelt eben NICHT alles von selbst und erst recht nicht zum Positiven. Da kann nur "die Politik" (also die geballte Macht von uns allen mit entsprechenden Gesetzen) im Großen etwas ausrichten. Der Markt kennt nur Profit. Und so lange sich die Politik weiterhin dem Markt unterordnet, wird sich daran auch nichts ändern. Da sind individuelle Konsumentscheidungen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Gleichzeitig spielst du unterschwellig Politik und individuelle Entscheidungen gegeneinander aus. Der Neoliberalismus freut sich. Denn du scheinst zu unterstellen, dass Menschen, die in derlei Fragen Änderungen der Rahmenbedingen seitens der Politik fordern, ihre persönliche Verantworung einfach abschieben wollen. Aber das ist ein Strohmann-Argument, das letzten Endes der Wahrung des Status Quo dient. Die Konzerne lachen sich ins Fäustchen, wie wir kleinen unorganisierten vereinzelten Insekten uns gegenseitig moralistisch für den Kauf eines Nackensteaks oder Handys zerlegen, während grundsätzlich alles schön so weiterläuft. Weil: Systemzwänge. Kapitalismus.

Warum also nicht beides: Mehr Aufklärung und bewussterer Konsum und gleichzeitig auch mehr Politik als einzig möglichem Gegenspieler auf Augenhöhe von Konzernen/Industrie/Kapital.

Und du beweist doch selbst, dass die Lösung nicht so einfach ist wie bewussterer Konsum: Oder wie umwelt- und arbeitnehmer-freundlich ist das Elektrogerät, an dem du gerade deine Nachrichten hier schreibst? Trotz all deiner Aufgeklärtheit und Moral? Denn du scheißt - im Gegensatz zu allen anderen Konsumenten, die du pauschal kritisierst - ja offenbar nicht auf alles. Dennoch hast wahrscheinlich auch du kein Gerät, an dessen Herstellungsprozess kein Blut klebt. Wieso, wenn es so einfach ist und nur am Konsumenten liegt?
Jetzt wirst du wahrscheinlich so argumentieren: So lange nicht genügend Leute mitmachen, ändert sich das Angebot nicht und du hast selbst kaum eine Chance, etwas besser zu machen, obwohl du ja gerne würdest. So denkt (berechtigterweise) aber jeder. Zugleich machst du damit unbewusst etwas, was du anderen ja vorwirfst: Du schiebst die Verantwortung ein Stück weit von dir weg und sagst, andere sollen doch bitte was tun. In diesem Fall dann halt nicht "die Politik" sondern "die Masse der Konsumenten".

Du siehst also: Diese Argumentation zu noch mehr Individualisierung ("Eigenverantwortung" - FDP) und noch weniger Politik ist ein Zirkelschluss, der am Ende einfach nicht aufgeht. Nicht aufgrund einer dem Menschen inhärenten Unmoral, sondern als Wesen des Kapitalismus. In einem System, in der primär jeder aufs Geld achten muss (vom Niedriglöhner bis zum Konzernchef) setzt sich am Ende billig immer durch. Mit all den Kosten, die wir inzwischen sehen. Da hilft die größte individuelle Moral nichts. Da muss nur einer aus der Reihe tanzen und die anderen sind wirtschaftlich im Arsch.

Und zu deinem historischen Beispiel: Das Leid der Sklaverei oder Zwangsarbeit war früher direkt vor der Haustür der Menschen. Ohne dass es praktisch relevante Konsumveränderungen bewirkt hätte. Und der Mensch ist heute grundlegend kein anderer. Warum sollte das Leid von Menschen heute am anderen Ende der Welt also mehr bewirken, nur weil wir hin und wieder eine Reportage im ZDF oder einen Beistrag auf Facebook sehen?

Jetzt kann man natürlich zynisch oder fatalistisch werden und sagen, tja, dann haben wirs halt auch nicht anders verdient. Aber wir haben in den letzten 200 Jahren doch auch gesehen, dass es dank Demokratie oder menschlichen Zusammenschlüssen (siehe Arbeiterbewegung) eben möglich ist, Dinge zum Positiven zu verändern, die individualisiert eben nicht möglich gewesen wären.

Denn einer der Grundgedanken demokratischer Politik ist doch gerade, dem gnadenlosen Dschungel, der die Welt ist, wenn Menschen jeder für sich allein als Individuum dasteht, eine gemeinsame Handlunsoption hin zu einer positiveren Welt hin zu ermöglichen.

Dein Appell an die Eigenverantwortung mag gut gemeint sein (und hat auch seine Berechtigung), spielt aber am Ende indirekt der fortschreitenden Schwächung des demokratischen Staates gegenüber dem Markt in die Hände.

Denn dann können beispielsweise Lobbyistin Julia Klöckner und ihre Freunde in der Agrarindustrie ja ruhig so weitermachen. Verantwortung und Schuld tragen nicht sie, sondern 83 Millionen Individuen mit ihren 83 Millionen eigenen Alltagsproblemen, die individuell zum jetzigen Zeitpunkt immer tausendmal wichtiger sind, als sowas abstraktes wie der Klimawandel in 50 Jahren, ein Schwein im Schlachthaus oder das Schicksal von jemandem am anderen Ende der Welt. Das wäre nur leider die komplette Entpolitisierung der Gesellschaft ganz im Sinne von Margaret Thatchers neoliberalem "There is no society!" sondern nur noch einzelne Konsumenten.


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