Thema:
Habe den ersten Einsatz als Schöffe hinter mir flat
Autor: peppi
Datum:24.07.20 17:45
Antwort auf:Was ich noch sagen wollte #253 von Bandit

Wurde Ende 2018/Anfang 2019 zum Hilfsschöffen bestimmt, d.h. ich springe ein, wenn Hauptschöff*innen ausfallen.

Ich habe mich 2018 "beworben", im Sinne von meine Kontaktdaten bei einem Infoabend da gelassen. Ich war mir ehrlich gesagt nicht im Klaren darüber, was das bedeuten könnte. :D

Los ging es nämlich mit einem Schreiben, in dem sinngemäß stand: "Sie sind nun Hilfsschöffe. Sie wurde gewählt/bestimmt. Für fünf Jahre. Da gibts kein vertun, ist nämlich Staatsbürgerpflicht!"

Letztes Jahr wurde ich ein Mal angeschrieben, ich hatte schon Urlaub gebucht, das wurde nicht einfach hin genommen, musste Buchungen usw. vorlegen. Hui!

Dienstag also die erste Ladung. Betrieb muss frei stellen. Es gibt eine klitzekleine Aufwandsentschädigung, sechs Euro/Stunde, Verdienstausfall wird vom Gericht bis zu einer gewissen Höhe bezahlt.

Ich wurde von einem sog. Wachtmeister in das Beratungszimmer hinter der Kopfseite gebracht und wartete dort auf eine weitere Schöffin (Parität!!1) und die beiden Richter.

Kurze Vorstellung, gleich weiter mit: "Jo, also, ein Geschiwsterpaar, aus Brasilien, am Flughafen mit sieben (!) Kilogramm Kokain, in Benzol, abgefüllt in Shampooflaschen, aufgegriffen. Klare Sache. Die Frau ist erst 18, deswegen Jugendstrafrecht. Bruder ist 27. Sind sie schon vereidigt? Nein? Na dann los!"

Raus ins Verhandlungszimmer, zwei Verteidiger*innen, die Angeklagten samt zwei portuguiesisch Übersetzerinnen, gegenüber, am Fenster, Staatsanwaltschaft und Jugendgerichtshilfe. Dazu eine Protokollantin (die zwischendurch immer wieder Emails an eine Kollegin schrieb, ich konnte es, leicht zur Seite gebeugt, ganz gut sehen, in der es um eine gestern durch sie gerettete Taube ging o. Ä.!?) Ein paar Leute schauen trotz Corona zu, drei Wachtmeister*innen. Stramm stehen, rechte Hand hoch, auf Verfassung und Gesetz schwören (fehlerfrei, puh!), alle anderen müssen auch stehen, ha, und hin gesetzt.

Klare, traurige und die ganze miese Scheiße abbildende Kiste: aus der bras. Provinz, noch nie aus der Stadt weg gekommen, keine Arbeit, kein Geld, Mutter Alkoholikerin, Vater tot, auf Facebook angeschrieben, easy money (3k pro Person wenn sie wieder zurück in Brasilien sind, Marktwert an die halbe Million wegen hoher Reinheit), passiert eh nix, machen andere jeden Tag - dumm gelaufen. Abgelaufen wie in einem Film: auf Facebook kontaktiert, Pässe beschafft, kurze Übergaben, selbst löschende Nachrichten auf Wickr, erfundene Europatour-Geschichte, gebuchte Hotels usw. Alles nicht zurück zu verfolgen. Alltag in FFM (meist im Körper geschmuggelt).

Die beiden geben zu und zeigen Reue, alles super glaubhaft, sie weint nur (bei den Lebensgeschichten musste ich aufpassen nicht auch mal feuchte Augen zu bekommen). Ein Text aus einem Chemielabor wird verlesen (Kokain usw.), zwei Zollbeamt*innen erzählen wie die Kontrolle/Festnahme ablief, die Jugendgerichtshilfe hält das Gericht an nach Jugendstrafrecht zu urteilen, auch klare Sache, die Verteidgung hält Plädoyers.

Und hier wird mir so dermaßen klar, wie wichtig gute Leute an deiner Seite sind: der Verteidiger von ihm hält ein beeindruckendes Statement, alles drin, strukturelle Gewalt, Geopolitik, Drogenkartelle, alles aus dem Stand, zumindest wirkt es so, ohne Stottern, ohne irgendwo rein zu schauen. Sie hingegen stottert, weiß irgendwie gerade so worum es eigentlich geht, verhaspelt sich wieder und wieder, ist nach einer gefühlt Minute fertig (Strategie? Die junge Frau für sich stehen lassen? Keine Ahnung, eher nicht, IMHO).

Die Richter*innen, ich bin also auch gemeint, ziehen sich zurück (wir wurden im Plädoyer vom Verteidiger auch direkt angesprochen). Hierüber muss ich stillschweigen, find ich auch gut so. Aber: es war echt positiv! Die beiden Richter haben sich alles angehört, sind auf jeden Frage eingegangen, und, das war ne tolle Erfahrung, haben eine Anregung unsererseits in die Urteilsbegründdung eingebaut, obwohl sie erst nicht wollten. Wir haben also tatsächlich was bewegt (Schöff*innenstimmen zählen btw. tatsächlicch so viel wie die der Richter*innen).

So richtig toll gefühlt habe ich mich natürlich nicht. Ist ja auch gut so. Absolut crazy, welche Macht der Staat über Menschen hat. Da wird dann im Namen des Volkes verlesen, dass wir folgendes Urteil getroffen haben: zwei Jahre und neun Monate für sie, fünf Jahre und neun Monate für ihn. Eingebaut wurde auf unser "Drängen", dass sie, bei guter Führung, nach der Hälfte der verbüßten Strafe nach Brasilien abgeschoben werden können, und in der Regel auch werden (also das passiert eh, er wollte es aber nicht verlesen weil nicht in der Hand dieses Gerichts usf.). Bei allem Scheiß den Kokain anrichtet, bei aller Abschreckung usw.: da sitzen zwei in der JVA, getrennt voneinander, die hier niemanden kennen, die Sprache nicht sprechen, noch nie außerhalb ihres Städtchens gewesen sind - super bitter. Und mir wird wieder mal klar, welche Geschichten hinter "Produkten" stecken, die nicht wenige Leute die ich kenne, auf Clubtoiletten schniefen (mal abgesehen davon, dass mit Sicherheit Leute deswegen gestorben sind, Drogenkriege, Bauern vertreiben usw.).

Was mir eher negativ auffiel: die unterfinanzierten und gestressten Gerichte konnte ich sehen/riechen. Bei aller Professionalität sollte es schnell gehen, es wurd kaum getrunken (wohl damit keine Toilettenpausen gemacht werden müssen), btw. haben wir auch nichts zu trinken angeboten bekommen, das gericht in FFM ist super abgerockt, alles ist relativ "unordentlich", die Fesnter wurden seit Jahren nicht geputzt, die technische Ausrüstung ist quasi nichtexistent usw. (also all das worüber wir jahrelang in Zeitungen lesen - es stimmt! ;))

TLDR: War eine tolle Erfahrung, gelebte Demokratie quasi! Geil, dass es das gibt.


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