Thema:
Sammelantwort flat
Autor: Telemesse
Datum:26.06.20 17:28
Antwort auf:Re:Ich bin da in einem echten Dilemma von Telemesse

Da ich mir jetzt nicht die Finger wund schreiben möchte kopiere ich hier jetzt mal einen Text der den Nagel auf den Kopf trifft.
Der Beitrag stammt aus dem Blog von la:iz UFU Berlin)
[http://laiz.blogsport.eu/ueber-uns/]

„Spätestens jetzt, bei den aktuellen Zwischenfällen in Wien, sollten bitte auch die Letzten das unterkomplexe Bild aufgeben, in dem zwischen rassistisch Diskriminierten und Diskriminierenden unterschieden wird und Personen nicht beiden Gruppen angehören können.

Ja, niemand kann ernsthaft leugnen, dass Menschen mit türkischen Wurzeln in Deutschland oder Österreich bei der Wohnungssuche und auf dem Arbeitsmarkt, auf der Straße und im ÖPNV, etc. von vielschichtigem und teilweise auch gewaltsamem oder gar tödlichem Rassismus betroffen sind.
Und dennoch sind es nun einmal potenziell von Rassismus betroffene Menschen, überwiegend türkischstämmige Männer, die dieser Tage in Wien als rechter Mob gewaltsame Angriffe auf progressive türkischstämmige und kurdische Aktivist*innen und Einrichtungen tätigen, noch dazu auf eine Kundgebung gegen Gewalt an Frauen.
Und große Teile der Linken? Schweigen! Trauen sich nicht, Islamismus und türkischen Nationalismus ähnlich zu bekämpfen wie FPÖ, AfD & Co. Bezeichnenderweise schweigen besonders jene besonders laut, die ansonsten viel zu Rassismus zu sagen haben.

Während Nationalismus von "Kartoffeln" zurecht skandalisiert wird, wird der türkische Faschismus nationalistischer und islamistischer Ausprägung nur dann kritisiert, wenn es um Angriffe auf autonome Regionen Kurdistans oder kurdische Einrichtungen und Aktivist*innen in der Türkei geht. Wenn nun aber Teile der türkischen Diaspora, die von AKP, MHP und Erdogan meisterhaft auf Linie gebracht wurden, deren Politik, durchsetzt von klerikalfaschistischer Ideologie, hier umsetzen, ist das Schweigen vieler Linken ohrenbetäubend.

Warum dieser Umstand, gerade verdeutlicht am Beispiel Wien, nicht nur auf kleiner, sozusagen "Straßenebene" ein Problem ist, sondern auch auf viel größerer, zeigt sich an der Debatte um antimuslimische Ressentiments in Deutschland, wie nach dem Anschlag von Hanau:
Aus Politik und bestimmten Teilen der Linken werden in dieser Debatte immer und immer wieder reaktionäre Akteure in den Vordergrund gestellt, die selbst verlängerte Arme der türkischen Regierung und insbesondere ihrer Religionsbehörde sind. So bekommen beispielsweise DİTİB-Akteure (DİTİB ist direkt dem türkischen Präsidialamt unterstellt!) nicht selten die Pole Position bei der Frage danach, was Rassismus in Deutschland ist und wie ihm zu begegnen sei. Ein anderes Beispiel ist der Zentralrat der Muslime (ZMD), der wohl wichtigste unter den islamischen Dachverbänden in Deutschland, zu dessen problematischen Gründungsmitgliedern unter anderem die ATİB gehört, eine Abspaltung der ultranationalistischen rechtsextremen grauen Wölfe. Nichtsdestotrotz gilt der ZMD als wichtige Stimme in der Rassismus-Debatte – auch heute (Quelle 1)!
Da ist es dann kein Wunder, dass anti-kurdischer und anti-armenischer Rassismus oder die Unterdrückung alevitischer Muslime in der Türkei in jener Debatte keine Rolle spielen – oder gar der Genozid an den Armenier*innen. Ganz zu schweigen von den Anfeindungen, denen migrantische Linke und Atheist*innen in D und Ö bspw. aus Teilen der türkischen Diaspora ausgesetzt sind.
Wer solchen reaktionären und protofaschistischen Akteuren zu Reichweite verhilft und die wichtigen, oft weniger prominenten Stimmen linker Migrant*innen hinten über fallen lässt, erweist der linken Sachen einen Bärendienst und scheint den Umgang mit Minderheiten in der Türkei zu ignorieren.

Zwei Dinge zum Schluss:
• Zu Wien: Wer es ernst meint mit Antifaschismus, muss endlich auch Islamismus in den Blick nehmen sowie den türkischen Faschismus innerhalb und seine verlängerten Arme außerhalb der Türkei. Ohne im Geringsten von genuin deutschen Problemen und Rassismen ablenken zu wollen, gilt: Wer Rechte nur kritisiert, wenn sie "Almans" sind, macht sich unglaubwürdig und tut der Linken nicht nur keinen Gefallen, sondern fällt progressiven migrantischen Kräften in den Rücken. Deshalb: Nie wieder Deutschland UND kein Fußbreit dem türkischen Faschismus!
• Zur AntiRa-Debatte: Die Widersprüche bei diesem Thema auszuhalten ist nicht leicht. Aber auch wenn es weh tut – bitte klopft Stimmen, die euch in der Anti-Rassismus-Debatte sinnvoll erscheinen, auch auf ihre eigene Gesinnung ab, bevor ihr sie teilt. Was im Großen gilt (auch Erdogan könnte vielleicht sinnvolle Dinge zu Rassismus sagen und hat deswegen noch lange kein Gehör verdient), gilt auch auf kleinerer Ebene.“

(K.)


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