Thema:
Es beginnt doch immer erst mit einer Sensibilisierung. flat
Autor: Pezking
Datum:11.10.19 10:17
Antwort auf:Ein Freund sagte heute: von thestraightedge

Wenn es darum geht, dass die Bevölkerung ein Problem überhaupt erstmal als solches anerkennt, muss sie es immer erst mal verklickert bekommen. Wenn sie es dann annimmt und verinnerlicht, ist schon viel erreicht.

Will man eine Hopplahopp-Verhänderung, muss die via Gesetz von oben kommen, wie beim Nichtraucherschutz. Da wurde tatsächlich mal von heute auf morgen der Schalter umgelegt - nur eben gefühlt auch viel später als nötig, obwohl man sich dabei der Unterstützung von über der Hälfte der Bevölkerung längst hätte sicher sein können.

Aber zurück zur Bewusstseinsänderung: Nehmen wir zum Beispiel die Belange von Homosexuellen oder Behinderten. Inhaltlich natürlich komplett Äpfel, Birnen und Tomaten in Hinblick auf den Klimaschutz - aber es geht hier im Ast ja auch um Bewusstseinsbildung und deren Wert.

Da musste man sich auch erst einmal in die aktive Wahrnehmung der Bevölkerung und der Politik reinkämpfen. Aufmerksamkeit erlangen und Empathie und Verständnis wecken. Das war ein langer Prozess - der sich letztendlich auszahlte. Homosexualität wird heute zumindest viel mehr als alltäglich und normal wahrgenommen, die Homoehe ist durch, und niemand wundert sich mehr über Baumaßnahmen zur Barrierefreiheit - als Nichtbehindertem fällt es mir inzwischen sogar auf, wenn irgendwelche öffentlichen Treppen oder so nicht barrierefrei sind. Zum Beispiel immer wieder in London, wenn ich sehe, wie rückständig die Briten in dieser Angelegenheit sind. Ebenso bin ich sensibilisiert für abschätzige, stereotype Darstellungen von Homosexuellen.

Jedenfalls ist Barrierefreiheit bei mir im Kopf inzwischen verankert als notwendiger Normalzustand. Das war vor 15, 20 Jahren sicher noch nicht so. Auch zu Homosexualität hatte ich in den Neunzigern sicher noch eine sehr uninformierte und ignorante Meinung. Aber ich habe zugehört, als man sich die Mühe machte, aufzuklären und zu sensibilisieren. Ich war bereit, mein Wissen und meine Wahrnehmung zu verändern und habe gesellschaftliche Wahrnehmungsänderungen begrüßt und befürwortet. Ohne mich jeweils selbst durch Aktivismus und Engagement hervorzutun.

Dafür habe ich keinen Orden verdient. Nicht mal einen Schulterklopfer. Dennoch trete ich inzwischen im Alltag gegen Homophobie oder Behindertenfeindlichkeit ein. Und das mache ich nicht aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus. Niemand bildet sich etwas darauf ein, asoziales Verhalten scheiße zu finden. Sobald in einem die Erkenntnis gereift ist, dass ein bestimmtes Verhalten asozial ist, hat man die gottverdammte Pflicht, dabei nicht mehr mitzumachen und anderen Menschen diese Einsicht ebenfalls näherzubringen.

Das macht einen nicht zum Helden. Helden sind die, die den Arsch hochkriegen auch wenn sie nicht vom direkten Umfeld akut getriggert werden. Aber es ist auch nicht nichts. Eine Gesellschaft reift nicht auf Knopfdruck. Es ist nie umsonst, Empathie, Demut, die Bereitschaft zum Zuhören und den eigenen Willen zur Veränderung zu fördern. Eine Bewusstseinsänderung ohne Aktivismus ist keine Heuchelei.

Ich erkenne mich in dem von tse genannten Szenario selbst wieder. Ich stelle Flugreisen jetzt nicht komplett ein (wobei ich in meinen 42 Jahren eh erst acht Flugreisen unternommen habe), aber ich überlege mir erst recht dreimal, ob sie wirklich sein müssen. Die nächste Städtereise nach London werden wir mit der Bahn unternehmen.
Wir schaffen unseren Benziner jetzt nicht ASAP ab. Aber wir fahren auch nicht unnötig viel durch die Gegend, und sobald wir eine neue Karre brauchen, werden wir einen sehr deutlichen Blick auf Elektroautos werfen.
Wir verkneifen uns jetzt nicht jede Avocado, aber es ist uns bewusst: Je weniger, desto besser für Umwelt und Klima. Und deshalb verkneift man es sich immer öfter. So ist es auch beim Fleischkonsum, insbesondere aus der Massentierhaltung.

Kurz: Es ist schon ein riesiger Fortschritt, wenn man sich bei Angelegenheiten des alltäglichen Konsums plötzlich laufend die Frage stellt, was das jeweils für Umwelt und Klima bedeutet. Und wenn dieses Bewusstsein erst mal landläufig Normalität ist, kommen die nächsten Fortschritte umso leichter. Weil die dann offene Türen einrennen.


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