Thema:
Re:Der Tod & das Sterben flat
Autor: token
Datum:03.10.19 12:16
Antwort auf:Der Tod & das Sterben von Gendo

Ich glaube die erste Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit hatte ich als Kind nachdem mein Großvater verstorben ist.
Zu diesem hatte ich eigentlich kaum eine Bindung, sein Tod hat mich zwar traurig gemacht, aber erschüttert hat mich was anderes, nämlich nicht dass er nicht mehr da war, sondern die Erkenntnis dass mir das gleiche blüht.
Du wirst älter werden, irgendwann bist du erwachsen (omg!), beängstigend, dann wirst du alt, noch beängstigender, und dann wirst du sterben. Und das wird passieren, da kannst du dich auf den Kopf stellen. Es wird passieren. Das wird dir passieren!

Dieses "Du wirst sterben" hat mich geraume Zeit geradezu verfolgt, immer wieder meinen Gedankenhaushalt überfallen und diese Vorstellung hat mich geradezu panisch werden lassen.
Letztlich konnte ich diesen Gedanken über die Zeit aber erfolgreich verdrängen, die eigene Sterblichkeit war nicht mehr Teil meiner Existenz. Ich konnte das zwar nicht verarbeiten, aber durchaus ausklammern, etwas was man weiß, aber dennoch nie daran denkt.

Damit war es im Zivildienst wieder vorüber. Hier kam mehreres zusammen. Menschen auf der Station starben. Der Tod war wieder da. Es war aber noch verstörender. Der Tod war keine Blitzattacke, er ging einher mit einer schleichenden Degeneration. Man baute von Tag zu Tag ab. Und das an einem Ort wo man sich jetzt nicht unbedingt einen geilen Lebensabend verbringt.

Es war oftmals ein ähnliches Drehbuch. Senioren kamen an, und einige von ihnen nicht wirklich freiwillig. Zur Einlieferung waren sie fit. Dann waren sie traurig und es ging bergab. Eine dieser Mini-Tragödien die niemanden interessiert obwohl sie sehr viele von uns vor der Brust haben werden, hab ich aus größerer Nähe begleitet. Eine alte Dame kam mit ihrer Familie an, vom Start weg war da dieser Missmut über die neue "Wohnung".
Sie war gegenüber ihren Kindern aufgebracht.
Ablehnung->Empörung->blanke Wut und schlussendlich als diese sich auf den Weg machten, dieses verzweifelte Flehen.

Sie hat viel geweint und tat mir unglaublich leid. Ich bin dann öfter an sie heran getreten, ob sie Lust hat gemeinsam einkaufen zu gehen oder auf einen Ausflug in den anliegenden Park. Erst zu Fuß, innerhalb weniger Wochen saß sie dann im Rollstuhl. Ich kann mich erinnern wie ich in einem Stationsmeeting Kritik geübt habe, ich fand es nicht in Ordnung dass man sie zum Frühstück im Rollstuhl schiebt, ein längerer Ausflug war ohne Stuhl nicht mehr drin, aber die paar Meter zum Tisch?

Ich war der Ansicht, das dürfe man so nicht, sie könne ja gehen, sie hat nur keine Lust mehr zu gehen. Wenn ich sie zum Frühstück geholt hab, ja, es hat Überzeugungsarbeit und Zeit gebraucht, aber dann ging sie zu Fuß, wenn jemand vom Personal für sie zuständig war, zack, Rollstuhl, Tisch, Tschüss. Das kann doch nicht sein, dass jemand der sich gehen lässt und Hilfe braucht um sich in seiner Situation einzufinden einfach sich selbst überlassen wird.

Die Stationschefin mochte mich, sie erklärte etwas was ich eigentlich verstand, nämlich dass das zeitlich für das Personal einfach nicht drin ist. Aber mit mir als Zivi hätte man jemanden der sich solche Räume nehmen kann, und wenn ich das möchte könne ich mir diese Zeit nach der Vorbereitung des Frühstücks nehmen. Und ich nahm sie mir, aber letztlich führte das nicht zu einer Wende sondern lediglich einer Verlangsamung. Und dann war der Tag da wo auch ich sie irgendwann in den Stuhl setzte weil alles positiv gestimmte Zureden nicht mehr half. Es ging bei ihr unglaublich schnell, sie verstarb nach wenigen Monaten obwohl sie nicht krank war.

Ich begriff irgendwie dass Leben nicht etwas ist was einfach da ist, sondern etwas, wozu man auch einen Willen aufbringen muss. Es ist nicht einfach nur der Körper, der Kopf spielt auch eine große Rolle. Beides hängt miteinander zusammen.

Die Zivizeit war eine Art Konfrontationstherapie hinsichtlich eigener Ängste. Diese Ängste und Sorgen bekamen auch weitere verstörende Detailstufen, jetzt hatte ich nicht nur Angst vor dem Tod, sondern auch Angst davor dass ich irgendwann im Altenheim lande. Am Altenheim war nichts romantisch oder schön. Es war deprimierend, auch wenn viele Bewohner sich damit gut arrangiert haben, mit anderen Bewohnern Freundschaften führten, Karten spielten, Musik hörten, und auch mit mir rumschäkerten. Eine Omi hat sich etwa bemüht mir Kölsch beizubringen. Wir kamen aber nie über die richtige Aussprache von Blutwurst hinaus. Blotwoooosch. Nein, Blootwooorsch! Blotwoorsch? Nein!

Routinen und Alltag machten diese Facetten zu der Normalität die sie ja auch darstellt. Im Hinblick auf die eigene Charakterentwicklung sehe ich dieses Jahr Zivildienst als einen der prägendsten Abschnitte meines Lebens an. Ich hab immer noch nicht das Gefühl "erwachsen" zu sein, aber wenn es darum geht zumindest erwachsener geworden zu sein, ist da vor allem die Zeit im Zivildienst und die Geburt des eigenen Kindes die eine gehörige Inventur in der Birne getriggert hat.

Wir hatten allerdings auch einen Bewohner der unter Alzheimer litt.
Wenn du stirbst, dann bist du tot. Dann ist es vorbei. Aber Alzheimer?
Ach du Scheiße! Du stirbst bei Bewusstsein, schleichend, zunehmend verblassen die Erinnerungen, irgendwann erkennst du deine Liebsten nicht mehr, dann rennst du wie ein Insekt herum, und irgendwann kannst du dich auch nicht mehr bewegen.
Absolut fürchterlich. Ich fand es wirklich schockierend.
Und etwas was ich nicht verstand war seine Frau. Die war mehrmals die Woche zu Besuch. Und sie hat immer gelächelt. Das Leben hatte ihr ihren Frohmut geradezu ins Gesicht gemeißelt.

Und sie saß bei ihrem Mann, hielt seine Hand, streichelte ihm den Kopf, erzählte von ihrem Tag, und schien dabei immer so ausgeglichen und glücklich. Und er kam dabei auch zur Ruhe. Auch wenn er offenbar nicht mehr verstehen konnte was sie sagte, lag oder saß er da, ruhig, sah sie an, hörte zu.
Ich verstand nicht wie sie das aushalten kann, ja nicht nur aushalten, sondern wie es möglich war dass sie nicht permanent erschüttert war ihn so zu sehen.
Heute verstehe ich das besser. Und doch hoffe ich sehr dass bei allen dickmoves die das Alter im Angebot hat, mir selbst dieser spezielle möglichst erspart bleibt.  

Nun war der Tod keine Unbekannte mehr, hatte etwas greifbares, und war dann aber doch etwas womit ich selbst innerhalb meines Umfeldes kaum konfrontiert wurde. Ein Jugendfreund starb bei einem Verkehrsunfall. Es war eine schockierende Nachricht, aber ich hatte über Jahre keinen Kontakt gehabt, besuchte auch nicht die Beerdigung. Ein flüchtiger Bekannter starb bei einem Verkehrsunfall. Auch hier, ein flüchtiger Bekannter. Noch ein flüchtiger Bekannter, Herzinfarkt, keine Familie, alleine zu Grunde gegangen weil niemand da war der einen Arzt rufen konnte. Vorfälle die mich trafen, aber auch nicht so richtig. So wie Promitode.

Und dann kam Frank. Frank hatte ich über ein Effzeh-Forum kennen gelernt. Man hatte den gleichen Humor, eine ähnliche Denke, gleiche Wellenlänge halt. Wir lernten uns auf einem Forentreff vor dem Stadion kennen, verstanden uns auch dort auf Anhieb super, und so entwickelte sich etwas von dem ich schon nicht mehr dachte, dass es mir in meinem Alter noch vergönnt wäre. Irgendwie fühlte ich mich bis dahin wie ein Einsiedler zwischen geschlossenen Gesellschaften. Man trifft immer wieder Menschen mit denen man sich versteht und gut unterhalten kann, aber es sind einfach Bekanntschaften, auch wenn man sich hier und da mehr wünschen würde.
Aber Frank wurde zum Freund.

Wir waren uns wirklich ähnlich, und wenn wir etwas unternahmen, waren es wilde Konversationen, rumalbern, evergreen Weiber, natürlich Fuppes, der Solbakken ist ein Genie, nein, der Solbakken ist ein Eierkopf, dumme Witze, und dann wieder philosophieren über das Leben und den ganzen shit, wo man Krempel auspackt wo andere nur noch einen Wtf-Blick aufsetzen und weg wollen, wir aber verstanden was der jeweils andere meinte.

Ich begriff auch schnell dass etwas mit Frank nicht stimmte. Frank war ein Unruhestifter sondergleichen. Er hatte einen Drang Menschen die er traf mit Spitzfindigkeiten aus ihrer Komfortzone zu holen, ihre Fassade wegzumeißeln bis etwas in ihnen herausbrach was sie nicht mehr kontrollieren konnten. Er war unheimlich gut darin, hochintelligent, wusste genau welche Saiten er zupfen musste, und dabei komplett schmerzfrei. Ich verstand auch das, neigte im Suff selbst immer wieder mal zu solchen Mustern wo ich andere völlig grundlos an ihre Grenzen trieb um irgendwie meine eigenen Grenzen zu spüren, mich zu spüren, einfach irgendwas zu erleben was man am nächsten Morgen nicht schon wieder vergessen hat. Und ich mochte diesen Aspekt an mir überhaupt nicht, jedesmal wenn mir sowas passierte, hab ich mich tagelang dafür geschämt.

Aber gegen Frank war dieses Verhalten völlig harmlos, das war Ascheplatz gegen CL. In der Gruppe wurde er entprechend als Gefahrensucher betitelt, aber wo andere das irgendwie als eine Art amüsante Marotte verstanden fühlte ich quasi instant dass das Hintergründe haben wird die alles andere als lustig sind. Und unter vier Augen sprach er dann irgendwann das aus was ich eh schon wusste. Dass er unter starken Depressionen litt. Dass er oftmals so tut als ob, eine Rolle spielt obwohl er sich anders fühlt als er sich gibt. Dass es ihn fertig macht wenn er rational begreift dass da gerade etwas unglaublich geiles passiert was ihn flashen müsste, er aber nichts fühlt, ihn das alles kalt lässt. Und dass er um sich zu spüren oftmals an Extreme gehen muss, und diese Extreme immer extremer werden müssen um ihn noch zu erreichen.

Einige der Abende mit Frank waren unvergesslich. Er schleifte mich durch Kneipen in die ich nie einen Fuß gesetzt hätte, und diese erwiesen oftmals als Goldgrube für Geschichten über menschliche Schicksale. Da der heruntergekommene Schluckspecht den man für einen Penner hält, und der dann so wortgewandt ist wie ein Professor. Irgendwelche Kölschmafiaopis die von ihren wilden Zeiten berichten mit Drogenhandel und Prostition und Schmuggel, wo einem beim zuhören das Gesicht aus dem Gesicht fällt. Und Frank, den man immer wieder einfangen muss, lass es doch bleiben, bitte, nicht heute, bittebittebitte. Und dann kassiere ich selbst die Faust und versuche Frank zu überzeugen dass er jetzt echt nicht in meinem Namen Rache üben müsste, dass es okay ist, natürlich erfolglos. Und ich schau mir das an und frage mich, ist das der Kumpel in ihm der sich meinetwegen furchtlos mit dem Gesicht in die Faust des Gegners wirft, oder der Gefahrensucher? Ich weiß es nicht. Aber die eigene Schmach ist vergessen als ich ihm auf helfe, und wir kommen auf der Heimfahrt nicht mehr aus dem Lachen heraus als wir gegenseitig unsere blutenden Gesichter betrachten.

Als der Anruf kommt frage ich nicht wie es passiert ist. Ich weiß es. Ich wusste auch dass irgendwann dieser Tag kommen wird. Dass das nicht gut ausgehen kann. Aber als der Anruf kommt wirft mich zum ersten mal der Verlust eines Menschen richtig aus der Bahn. Und natürlich mache ich mir Vorwürfe, obwohl ich irgendwie denke, da haste keinen Zugriff gehabt. Mehr als zuhören geht da nicht. Ich versuche mich in ihn reinzuversetzen, ich denke mir, also wenn es mir so gehen würde, dieser Moment käme wo du einfach überhaupt nichts mehr zu verlieren hast, dann würdest du dir doch denken, fuck it, einfach zum Flughafen fahren, in irgendeinen Flieger setzen, in den Urwald laufen, irgendwas, ein letzter Knall, irgendwas was noch mal die Perspektive verändern kann, und nicht einfach aufgeben und loslassen. Und vielleicht war das mein Job das für ihn zu übernehmen? Ich wusste dass es schlimmer wurde. Es war immer schlimm, aber die Meds wirkten nicht mehr, auch keine Gefahrensuche mehr, gedankliche Abwesenheit, Apathie.

Ich denke an oft an unser letztes Gespräch. Er sagte mir, er hätte einen eleganten Beweis für Fermats letzten Satz gefunden. Er wusste auch wie sehr ich das Buch über diese wahre Geschichte mag. Ich denke er trollt mich, und lasse mich schmunzelnd darauf ein. Da müsse doch nichts mehr bewiesen werden. Ja, aber sein Beweis sei kurz und elegant und einfach. Seit wann sei er Mathematiker. Und er sagt, das sei es gerade, die Beweisführung sei nicht mathematisch. Fermat hätte mit seinem Gekritzel einen Witz gemacht der in eine andere Richtung ginge. Und welche? Das würde er mir erzählen wenn es so weit ist.

Ich frage mich immer noch ob das sein letzter Joke war, ob er schon wusste was er vor hat und sich ins Fäustchen lachte wenn er darüber nachdachte dass ich mich hinterher fragen würde, ob er zu diesem Zeitpunkt rational schon so instabil war, dass er wirklich glaubte er hätte da was. Oder ob es ihm darum ging dass er es lustig fand wenn ich mir hinterher genau diese Frage stellen würde. Oder ob er da tatsächlich was hatte was er mit ins Grab genommen hat.

Ich brauchte recht lange um diesen Verlust wirklich zu verarbeiten und auch, um mich da von Schuldgefühlen zu befreien. Der Tod ist so endgültig, du kannst nichts mehr sagen, der Mensch ist einfach weg. Und die Erde dreht sich weiter, als sei nichts passiert.

Ich hatte damals das Bedürfnis mich irgendwie mit dem Tod als solchen irgendwie tiefer auseinandersetzen zu müssen. Diese Auseinandersetzung nicht zu verdrängen sondern zu suchen. Ich las auch das Buch von Domian, "Interview mit dem Tod", und obwohl der dort vorherrschende Kunstgriff ein Interview mit dem Gevatter zu führen ein Stück weit albern ist, ist es sehr aufschlussreich auf eine Reise durch alle möglichen Kulturen und Glaubensrichtungen geführt zu werden, von persönlichen Anekdoten zu lesen, von anderen Schicksalen. Und die Bandbreite von Perspektiven auf etwas zu erhalten was jeden von uns betrifft, und wo wir doch solche Widerstände verspüren uns überhaupt auf so einen Themenblock überhaupt nur einzulassen.

Aber für mich hat es einiges sortiert. Und Ängste abgebaut. Bis hin zu dem Punkt dass ich den Gedanken an den Tod aus heutiger Sicht auch ein Stück weit tröstend finde. Das Leben ist schön, aber auch ganz schön anstrengend. Die Aussicht auf eine _vollkommene_ Ruhe ist imo nichts was einem Angst machen müsste.

Was meine persönliche Perspektive auf solche Themen auch mitgeprägt hat, war einerseits "Der Stoff, aus dem der Kosmos ist" von Brian Greene, also das große Ganze, so wie "Der Ego-Tunnel" von Thomas Metzinger, welches die Funktionsweise des Ich-Bewusstseins behandelt.

Ich habe über weite Phasen des Lebens den persönlichen Lebenssinn ein Stück weit im Hedonismus gesucht. Es gibt keinen Gott, es gibt keine Richter, es gibt dich und du hast begrenzt Zeit. Nutze dies aus um krasse Erlebnisse zu machen, probier dich immer wieder aus. Ich hatte quasi eine Todo-Liste spannender Erlebnisse die ich machen wollte.

Heute sehe ich das anders.
Ich denke, das Ich-Bewusstsein ist weit weniger mysteriös als man gemeinhin und intuitiv annimmt, und diese falsche Prämisse verleitet zu vielen Trugschlüssen wie Seele oder Jenseits. Aber das was da ist, nicht etwas darstellt was einen melancholisch stimmen müsste, sondern eine wunderbare Eleganz mitbringt. Ich glaube daran dass alles was wir erleben nicht vergänglich ist, sondern dass unsere Wahrnehmung von Zeit eine Illusion ist, und das was war, nie weg sein wird, und das was kommt eigentlich schon da ist. Ich denke das ist durchaus eine schlüssige Schlussfolgerung auf die Problematik der Undefinierbarkeit eines universalen "Jetzt".

Dass Raum und Zeit, vom absoluten Anfang bis zum endgültigen Ende, eine Art immerwährendes Kunstwerk sind, und unser eigenes Leben und was wir daraus gemacht haben, eine Art Pinselstrich in diesem Kunstwerk darstellt. Und dieser Pinselstrich mag noch so klein und unbedeutend sein, das Kunstwerk wäre ohne diesen Pinselstrich nicht das gleiche.

Nichts von dem was war ist wirklich verloren, und bei allem was noch kommt gibt es jede Menge zu gewinnen.


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