Thema:
Wenn einem die Mutter genommen wird... flat
Autor: Leviathan
Datum:20.09.19 10:20
Antwort auf:Was ich noch sagen wollte #246 von Bandit

...dann ist das das schlimmste Gefühl, das es geben kann. Etwas Schlimmeres und Krasseres habe ich bislang nicht miterlebt. Das ist so ein Erlebnis, dass dich erstmal komplett lähmt, alles ist wertlos, alle Zukunftspläne für den Arsch. Denn dieser einen Frau, die unsere komplett männerdominierte Familie in all den Jahren so unfassbar gut zusammengehalten hat, kann man nicht mehr davon berichten. Sie hätte zwar nicht „Ich bin stolz auf dich!“ gesagt, aber es mit jeder Faser, jeder Mimik, jeder Gestik ausgedrückt und ich gedacht: Du musst es auch nicht sagen.

Meine Mutter war nicht die Fitteste, hatte hier und da kleinere und größere Wehwehchen, über die sie bescheuerterweise aber nie geklagt hat. Alles war immer in Ordnung. Hüften kaputt? Geht schon, hab keine Schmerzen. Nieren kaputt? Ich hab keine Schmerzen. Zu Behandlungen musste man sie quasi zwingen und genau diese Scheiße hat sie letztlich ihr Leben gekostet. Eine erste vermeintlich harmlose OP für einen Zugang lief schief und sie wurde anschließend gestern vor zwei Wochen ein zweites Mal zur Korrektur operiert. Ich war nach Feierabend da, sie hatte leichte Schmerzen, aber, klar: geht schon. Man spricht über völlige Belanglosigkeiten („Du bräuchtest mal einen neuen Bürostuhl.“). Der nächste Tag: MRT, Not-OP, der Darm wurde beschädigt, künstliches Koma, Intensivstation. Zwei Tage später war’s vorbei. Und dieser beschissenste aller beschissenen Momente wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, mich nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Atmung und Bewegungen, alles war komplett aus dem Rhythmus.

Noch eine halbe Stunde vor ihrem Tod hatte ich überhaupt keine Sorge, dass das irgendwie schiefgehen könnte. Da herrschte bei mir bislang ein naives und völliges Grundvertrauen in die Medizin. Als ich letztes Jahr ewig lang krank war, sagten mir auch Freunde, dass sie wirklich Angst hatten, dass ich die Sache nicht überstehe. Ich habe nicht eine Sekunde darüber nachgedacht. Als mein Vater vor vielen Jahren mit einer Herz-OP notoperiert wurde, war es für mich völlig ausgeschlossen, dass irgendwas passieren könnte. Wir sind schließlich unbesiegbar.

Sind wir nicht.

Gestern haben wir sie kurz vor ihrem 63. Geburtstag in ihr kleines Urnengrab getragen und auch wenn alle Verbliebenen maximal unreligiös sind, hat es doch irgendwie geholfen und es war ein schöner Tag. Zumindest in dem Maße „schön“ wie so ein beschissener Anlass halt sein kann. Es gibt so vieles, was immer noch verdammt wehtut und ich appelliere seitdem immer wieder an Freunde und Bekannte: Wenn ihr euren Eltern oder euren Liebsten irgendwas zu sagen habt. Dass ihr sie liebt, dass ihr stolz auf sie seid, wie viel sie euch bedeuten, dann gebt euch nen Ruck und lasst es verdammt nochmal raus.

Ich habe längere Zeit darüber nachgedacht, ob ich hier im Forum etwas dazu schreibe und mich dann letztlich dafür entschieden, weil ich gemerkt habe, dass mir jedes Gespräch, jeder Chat, jede Konfrontation über/mit das/dem Thema sehr geholfen hat. Nachdem ich es durch die letzten drei Tage inkl. Beerdigung heul- und größtenteils tränenlos geschafft habe, musste ich beim Tippen der wenigen Zeilen immer wieder pausieren und Tränen wegwischen. In den vergangenen 15 Monaten ist so viel Scheiße passiert, dass das die ganzen tollen Ereignisse (eigene Hochzeit, Nachwuchs in der Familie, toller Japan-Urlaub) überhaupt nicht aufwiegen können. Das ist nun nicht das Sahnehäubchen, sondern ein ganzer Laster voller Scheiße, der nochmals draufgekippt wurde. Wird ein langer Weg.


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