Thema:
Die längsten 100 Meter. Achtung - TL;DR flat
Autor: geraldo
Datum:15.09.19 19:50
Antwort auf:Was ich noch sagen wollte #246 von Bandit

Da schlappe ich matt im Kopf gegen 11:00 Uhr heute Richtung U-Bahn zum Büro als ich an einer Kreuzung eine dünne Stimme durch die AirPods hören: "Können sie mir bitte helfen?". Ich gucke nach links, da ist eine sehr gebrechliche alte Frau, mit ihrem sperrigen Rollator zwischen Fahrrädern und E-Rollern irgendwie stecken geblieben, viel Platz um vorbei zu kommen war da nicht. Kurze Zeit später waren wir dann auf dem Weg, ich führe ein bisschen mit einer Had den Rollator und wir unterhalten uns etwas. Es sind wohl nur wenige Meter Weg zum Ziel, klar habe ich Zeit sie zu begleiten.

Die Frau war schon bestimmt einen Kilometer unterwegs, wie ich so raushören kann. Sie will ihren Mann besuchen, der noch zuhause lebt. Sie wohnt im Heim. Es ist recht heiß, alle zwanzig Meter machen wir kurz Pause, ein Schluck aus der Wasserflasche, Rollator neu ausrichten, sie kann sich nicht gut auf das Ding stützen.
Gelegentlich muss ich ihre die Jacke auf- und zuknöpfen, es ist ein warmer Tag aber gelegentlich ist es zugig.

So langsam - und bestimmt 15 Minuten später - haben wir knappe 50 Meter geschafft, wurden von etlichen Joggern überholt und fast hätte uns das Kind auf dem Laufrad gerammt, aber wir hatten die Kreuzung erreicht, jetzt habe ich auch das Ziel erfahren, nur noch circa 50 lange Meter. Ich muss sie öfters mal aufrichten, Wasser, eine kleine Umarmung und umgucken, wie schön es hier doch ist. Sie hat hier sechzig Jahre gelebt.

So geht das weiter, wir waren bestimmt nochmals zwanzig Minuten unterwegs. An der Adresse soll ich nun klingeln, ein Name - oder doch der andere. Sie steht am Rollator, die Gegensprechanlage funktioniert nicht oder niemand ist daheim. Zweiter Name wird mir benannt - keine Reaktion. Ich klingle nochmals am ersten Namen und der Summer springt an. Vierter Stock, steile Treppen. Ich sage der Dame Bescheid daß ich erst mal nach oben gehe und gleich wieder da bin.

Dort treffe ich - vermutlich - ihren überraschten Mann an, gepflegter Typ, klarer Blick. 14:00 Uhr sei mit der Frau ausgemacht worden. So gehe das nicht. Aber er kommt gleich nach unten. Ob ich vom Heim seie. Was - mit dem Rollator ganz alleine ist sie unterwegs?

Ich gehe zur Frau runter, sie ist im Gespräch mit einer anderen Passantin. Grüßt, sieht, daß wir uns scheinbar kennen und geht weiter joggen. Ich erkläre der alten Dame, daß der Mann runterkommen wird. Keine fünf Minuten  später ist er da, ist etwas aufgebracht aber nicht unhöflich. Sie soll in ein Taxi und heimfahren, es gehe ihr doch nicht gut. Er gehe gleich hoch und rufe ein Taxi, er habe doch eine Verabredung zum Mittagessen. 14:00 Uhr war vereinbart und nicht mit dem Rollator. Ich rufe dann ein Taxi, er geht nach oben und holt Geld.

Die Frau packt mich am Ärmel und flüstert mir ins Ohr: "Ich bin so alleine. Ich bin hier nicht willkommen. Können sie mir ihre Telefonnummer aufschreiben?" Mache ich auf ihren Nummernzettel.

Kurze Zeit später kommt das Taxi, die Frau weint etwas. Ich drücke sie nochmals kurz, wünsche alles Gute. Schüttle dem Mann die Hand und wünsche einen schönen Sonntag.

TL;DR: mir tut die Frau unendlich leid. Sie scheint eine Parkinson ähnliche Erkrankung zu haben, starke Einschränkung in der Beweglichkeit und Zitteranfälle. Keine Aggressivität wie ich das von anderen schon gehört habe, eher still.

Zwei Sachen frage ich mich: hätte ich da was anders oder besser machen müssen? Ruft man da professionelle Hilfe, der Eindruck, daß etwas nicht stimmt, hatte ich von Anfang an. Und noch etwas - engagiert sich von euch jemand ehrenamtlich irgendwie bei solchen offensichtlichen sozialen Lücken?

Wie auch immer, ich werde die Frau nächstes Wochenende mal im Heim besuchen gehen.


< antworten >