Thema:
Flamme Rouge flat
Autor: Felix Deutschland (deaktiviert)
Datum:18.07.19 13:46
Antwort auf:Brettspiele & co Teil 2 |OT|: Homo ludens von Cherokee

Flamme Rouge ist ein "Rad-Rennspiel", bei dem das Movement ausschließlich über das Ziehen von Karten funktioniert.

Jeder Spieler (In der Basisversion 2-4, mit der Erweiterung 1-6) hat die Kontrolle über zwei Fahrer, je einen Sprinteur und einen Rouleur. Jeder Fahrer hat ein eigenes Deck aus verdeckten, gemischten Karten, die bestimmen, um wie viele Felder sich dieser nach vorne bewegen darf. Jedes dieser Decks hat die exakt selbe Anzahl an Karten (15). Der Rouleur kann allerdings maximal 7 und mindestens 3 Felder zurücklegen, wohingegen der Sprinteur zwar auch Karten für nur 2 Felder in seinem Deck hat, dafür aber auch Karten für das Zurücklegen von 9 Feldern. Eine einmal verbrauchte "Fortbewegungskarte" wird nach Benutzung aus dem Spiel entfernt und kann bis zur nächsten Partie nicht mehr benutzt werden.
Zusätzlich zu aufeinanderfolgenden Feldern ist die Strecke auch noch in zwei nebeneinanderliegende Bahnen unterteilt. Wenn ein Fahrer auf einem Feld landen würde, auf dem bereits zwei Radlfahrer nebeneinander stehen, versperren diese ihm den Weg, solange er nicht an ihnen vorbeiziehen würde, und muss sich hinter ihnen einordnen.

Am Ende einer Runde wird noch geschaut, welche Fahrer lediglich ein Feld auseinanderliegen, und dieser "Windschatten" abgerechnet: Der Fahrer oder das Pulk aus Fahrern, das am Ende eines Zuges nur ein Feld hinter dem davor fahrenden Radler fährt, schließt dieses Feld auf - solange die Strecke dies zulässt!

Es gibt gleich mehrere Strecken im Basisspiel, die man sich ähnlich einer sehr primitiven Modelleisenbahn modular zusammenlegen kann. Neben der klassisch geraden Strecke gibt es auch ansteigende und abschüssige Straßenabschnitte. Auf Anstiegen kann niemand in einem Zug mehr Felder zurücklegen als 5 und es gibt keinen Windschatten. Auf abschüssiger Straße kann man widerum nicht langsamer als 5 Felder pro Zug fahren und hat dazu noch Windschatten.

Die letzte Regel, und damit müsste ich eigentlich alle Spielregeln des Basisspiels bis auf die Festlegung der Startreihenfolge erklärt haben: Alle Fahrer, die am Ende jeder Runde vor sich nichts anderes haben als Luft, bekommen eine Fatigue-Karte, mit der man nur zwei Felder zurücklegen kann, in ihr Deck gemischt. Auch wenn sie direkt nebeneinander stehen und so bspw. ein Pulk anführen, und auf abschüssigen Strecken auch, wenn zwischen ihnen und dem Fahrer davor nur ein Feld liegt, weil es ja keinen Windschatten gibt.

Die Aufmachung hat mich an diesen Oscar-gekrönten Animationsfilm "Das Große Rennen von Belleville" erinnert, was mir bei der Rücküberprüfung gerade eben nur aufzeigte, wie krass meine Erinnerungsfähigkeit sich im Abbau befindet. Belleville sieht teilweise grotesk und hart an der Grenze zu irgendwelchen bizarr fremdenfeindlichen Karikatur aus, wohingegen das Artdesign von Flamme Rouge zwar beizeiten leichte Züge von "Karikaturenzeichner auf Sacre Coeur" in sich trägt, aber nicht so bloody fucking disgusting aussieht. Im Gegenteil, die Ästhetik ist sehr heimelig und angenehm. Jemandem, der mit der Materie nicht vertraut ist, könnte man das Spiel definitiv als verschollene Original-Rarität aus den 50ern unterjubeln, wenn man für genügend glaubwürdige Gebrauchsspuren sorgt. Die abgebildete Ära des Radsports, auf die das Spiel mangels Lizenz nicht explizit Bezug nehmen darf, ist die Tour de France Anfang des 20. Jahrhunderts, wo die Fahrer noch während des Rennens Wein soffen und als Dopingmittel bestenfalls Kokain übrig blieb, was glaube ich damals nichtmal verboten war. So gut wie alle Fahrer haben riesige Schnauzbärte, und selbst auf den Strecken-Tiles sind immer mal wieder rein zu Dekorationszwecken kleine Schafe aufgemalt, die über die Strecke laufen, oder irgendwelche Tracteurs, die den Wegesrand zieren.

Das Spiel ist supergeil und ich liebe es.

Die Basisversion bietet zwar schon Spaß, die Erweiterung "Peloton" hingegen rundet das Ganze erst so richtig ab. "2-Player-Mode" geht zwar in der Basisversion, ist aber mangels Pulk und sich automatisch ergebendem Windschatten, vor allem wenn man auf komplett ebener Strecke spielt, eine Mischung aus Mad Dash to the finish line und Versteckspiel hinter den zwei anderen Fahrern, um möglichst wenig Fatigue-Karten zu fressen bis man kurz vor Schluß genug "große" Karten verbrennen kann um seinen Konkurrenten DDR-Style zu überholen, ohne einzuhohlen (...oder so...). Das ist taktisch natürlich arg limitiert.

Mit der Peloton-Erweiterung kann man aber mit bis zu fünf "Bot"-Teams spielen. Dafür braucht man nur sehr wenige Karten, die man je nach Art des Teams ("Muscle"- oder "Peloton"-Team) entweder in ein volles 2-Fahrer-Deck dem Sprinteur untermischt oder im Falle des Peloton-Teams beide Fahrer mit einem Sprinteur-Deck antreibt und diesem zwei Karten untermischt. Es darf nur ein einziges Peloton-Bot-Team geben, aber Muscle-Teams so viele wie die maximale Spielerzahl (Man kann also, wenn man überhaupt kein Leben hat, ganze Rennen nur mit Bots spielen, ohne selber wirklich ein Team zu steuern). Dadurch lassen sich 2-Spieler-Runden mit genug Fahrern auffüllen, dass auch bei der Zahl an menschlichen Mitspielern genug Windschattensituationen aufkommen, um das Spiel viel weniger vorhersehbar und spannender zu machen. Die Bots bekommen nämlich keine Fatigue-Karten, während man als menschlicher Spieler vor jedem Zug immer vier Karten zieht und aus diesen vier Karten die für einen beste auswählen kann. Der Bot spielt immer die oberste Karte seines Decks, was manchmal gut klappt und manchmal arg nach hinten losgeht für den Bot.

In der Theorie kann man seine beiden Fahrer synergetisch miteinander nutzen, indem man den Rouleur Fatigue-Karten fressen lässt, während der Sprinteur kleine Strecken immer einen Ticken zu kurz zurücklegt, um dann per Windschatten "gratis" ein Feld aufzuschließen, und der Sprinteur dadurch nach ca. der Hälfte des Rennens genug große Karten hat, um möglichst durchzupreschen. In der Theorie. In der Praxis wird dieses ideale Vorgehen permanent von den anderen Spielern sabotiert, die entweder im Weg rumstehen, oder sich vor einen in das Windschattenfeld drängen, oder oder oder. Der Ausgang der Rennen ist dabei quasi immer sehr eng (Wir erinnern uns: Alle menschlichen Spieler haben exakt dieselben Karten), auch wenn es währenddessen teilweise spektakuläre Ausreißer gegeben haben mag - diese fressen dann allein vorweg fahrend entsprechend auch eine Fatigue-Karte nach der anderen.

Das Spiel ist nicht besonders teuer (~30 Euro in diversen Shops, ich hatte mein Exemplar von Milan-Spiele.de), die Peloton-Erweiterung kostet hingegen fast genauso viel (~27 Euro bei Amazon). Da man in dem Spiel seine Karten sehr oft benutzt und vor allem mischt, empfehle ich, zusätzlich auch noch für alle Karten Sleeves zu kaufen (Docsmagic-Größe "Small Standard American", 58mmx89mm - Für das Spiel samt Erweiterung werden exakt 300 Sleeves benötigt). Das Resultat ist ein Spiel, das man auch in 30 Jahren noch easy rausholen und mit Jedermann spielen kann, denn die Regeln sind sehr einfach, und entsprechend auch sehr einfach anderen Leuten beizubringen. Flamme Rouge ist auch eines dieser Spiele, die man getrost mit seinen Eltern spielen kann, weil für Nicht-Spieler direkt etwas Vertrautes auf dem Tisch steht (Eine Art Carrera-Bahn und Radfahrer, wie man sie evtl. aus dem TV oder aus den Nachrichten kennt) anstatt irgendwelcher abstrakten Klötzchenlandschaften mit dem ästhetischen Charme von fleischgewordenen Powerpoint-Diagrammtafeln.

Die Abläufe verinnerlichen sich schnell, so dass man nach einer Eingewöhnungszeit von max. 10 Minuten schnell in einen Flow reinkommt, auch im Spiel mit Bots (Deren Admin ist wie gesagt ebenfalls schön übersichtlich und simpel). Das Ergebnis ist der "Noch eine Partie!"-Sog. Schnell ist eine Strecke ab- und die nächste aufgebaut, wenn man plietsch genug ist, die Karte der absolvierten Strecke zu benutzen um die Einzelteile für die kommende rasch wiederzufinden. Die Streckenteile sind nach Alphabet sortiert, jeweils mit einem kleinen und einem großen Buchstaben für die Vorder- und die Rückseite. In der Basisversion gibt es sechs Strecken, in der Erweiterung nochmal sechs (plus dieselben sechs Strecken in Varianten für 5-6 Spieler auf der Rückseite). Natürlich kann man mit den Tiles auch anhand bestimmter Regeln (damit man mit den Powercards auskommt) eigene Strecken erstellen und sie vergleichsweise praktisch teilen, indem man den Buchstabencode von Strecke bis Ziel notiert ("abcERpoMl..." you get the idea).
Wer darüberhinaus noch Lust hat, selber kreativ zu werden, kann die Miniaturen der Fahrer bemalen. Um das zu vereinfachen, sind seit der zweiten Auflage des Spiels die Fahrer lediglich auf die Räder gesteckt, was deren Handhabung unbemalt leicht fragil wirken lässt, aber wenn einen das stört kann man die unbemalten Miniaturen auch auf ihren Sätteln festkleben. Aber feiner Zug des Entwicklers, an dieses Detail in der Neuauflage gedacht zu haben.

Ich sehe mich dieses Spiel jedenfalls noch sehr, sehr oft spielen. Das erste mal, dass ich in derselben Session, wo ich das Spiel zum ersten mal gespielt habe, auch noch die Erweiterung davon ausprobiert hab, weil es alles so flüssig und zügig vonstatten ging. Und ich interessiere mich einen absoluten Scheißdreck für Radsport.

Nicht unerwähnt lassen sollte ich vielleicht noch die Tatsache, dass man das Spiel in einer Art Legacy-Mode zocken kann. Es gibt eine Compagnion-App, mit der man den Fortschritt über mehrere Partien hinweg tracken kann, so dass man richtige Touren mit mehreren Strecken spielen kann (bspw. eine Fake-Tour-de-France mit 23 Etappen). Nach jeder Etappe halbiert man die Anzahl an gesammelten Fatigue-Karten aus seinem Deck und geht mit der anderen Hälfte in die nächste Runde, wo man gucken kann, ob man bspw. eine Etappe lang nur im Pulk mitfährt und dabei seine Fatigue-Karten abbaut, oder ob man mehr Risiko geht, dafür aber wieder nochmal erschöpfter in die nächste Etappe (Da Bots keine Fatigue-Regeln haben, natürlich mit Bots eher nutzlos, es sei denn man spielt die auch mit den Erschöpfungskarten; bleibt einem ja unbenommen).

Dazu gibt es in der Peloton-Erweiterung auch noch neue Strecken-Tiles mit dreispurigen Straßen, Pflasterstein-Abschnitten (Wie Anstiege, nur etwas schwächer) und Regenerationszonen (Wie Abhänge, nur ebenfalls etwas schwächer). Ob man die "Meteo"-Erweiterung braucht, die randomisierte Wettereffekte in den Rennverlauf streuselt und die Möglichkeit schafft für Karambolagen, muss jeder selber wissen, mir würde es damit wohl zu fummelig werden, aber wer weiß. Eine dritte Erweiterung ist in der Entwicklung, ich bin mal gespannt, welcher Mechanik sich diese annehmen wird.

Uneingeschränkte Empfehlung, für alle Altersklassen. Es ist genau die richtige Mischung aus Glück, bluffen und Risikomanagement für mich, und die Art, wie flott sich das spielt, das Tüpfelchen auf dem i.


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