Thema:
Schräge Erlebnisse rund um Thom Yorke flat
Autor: Pezking
Datum:04.07.19 12:40
Antwort auf:Konzerte 2019 von Deashcore

War gestern zusammen mit meiner Frau bei Thom Yorke in der Jahrhunderthalle in Frankfurt-Höchst.

Ich hatte gestern Nachmittag nix mehr zu tun, also bin ich recht zeitig zur Halle, um uns gute Plätze zu sichern. War schon so etwa 105 Minuten vor Öffnung dort. War nicht zu heiß und ist ein schönes Gelände, also keine Qual.

Kaum näherte ich mich dem Eingang, wo sich noch keine Schlange gebildet hatte, kam schnurstracks ein blauhaariges Mädel auf mich zugelaufen. Sie fragte mich auf Englisch, ob sie mir eine Zahl auf die Hand malen dürfte.

Perplex stimmte ich zu, was soll schon passieren?

Es wurde dann die 26 und sie erklärte, dass sie das mache, damit es nachher beim Einlass keinen Stress gäbe. Natürlich hatte sie selbst die 1 auf ihrer Hand...

Ich stelle mich also in den Schatten und beobachtet das Treiben weiter. Auf der anderen Seite saßen Teile der Durchnummerierten an der Wand, andere liefen sonstwo auf dem Gelände rum. Neuankömmlinge wurden meist von Käpt'n Blauhaar vollgekritzelt, aber sie hatte offensichtlich auch nicht alle im Blick oder mied manche vorsätzlich, keine Ahnung. Jedenfalls war die Nummernfolge zweifellos Kraut und Rüben.

Ich hatte auch null Vertrauen in deren Nützlich- und Verbindlichkeit beim Einlass und fand es eher nervig, dass sich selbst eine gute halbe Stunde noch niemand traute, mal eine normale Schlange zu starten.

Käpt'n Blauhaar hatte es also geschafft, alle dort auf eine vermeintlich nette Tour zu verunsichern. Mit einem Filzstift sicherte sie sich Platz 1, ohne selbst überhaupt Schlange zu stehen. Hut ab dafür!

Natürlich kamen dann irgendwann größere Menschenmengen von der S-Bahn auf einmal, die man nicht mehr alle durchnummerieren konnte. Als diese sich normal anstellen wollten, ging der Stress dann los: Die internationale Frauenhorde bahnte sich ihren Weg in die sich anbahnende Schlange, verwies auf ihre selbst aus dem Arsch gezogene Nummernregelung und schob ziemlich ruppig alles zur Seite. Dann forderten sie alle auf, niedrigere Nummern doch bitte vorzulassen. Wer das nicht täte, sei "not cool".

Es war ein sehr weirdes Schauspiel. Und als dann außer den ersten vielleicht zwölf Leuten eh keiner Bock hatte, sich in der Schlange nur wegen einer Quatschnummer auf der Flosse weiter vorne zu platzieren, wurde es richtig harter Cringe. Letztendlich hatten die wenigen britischen Nummernnazis mit ihrer ach-so-sozialen Tour nur sich selbst geholfen. Herzlichen Glückwunsch!

Ich war dann (mit meiner inzwischen eingetroffenen Frau) so etwa der 20. in der Schlange. Hatte auch Leute vorgelassen, die niedrigere Nummern hatten, sah das alles eher locker, verdutzt und amüsiert. Das Publikum war ungewöhnlich international, ich hörte fast nur englisch, polnisch, russisch, französisch und was weiß ich noch. Einige waren sichtlich verzweifelt und fingen fast an zu heulen, weil sie UN-BE-DINGT in die erste Reihe wollten und selbst an der Spitze der Schlange noch Schiss hatten, dass das nicht klappt.

Ich gehe ja auf recht viele Konzerte, doch so ein Bohei bin ich nicht gewöhnt.

Die Tore gingen auf, und es setzte direkt eine heftige Rennerei ein. Die ich so auch von Konzerten nicht kenne. An den Ticketscannern wurde auch kräftig geschubst. So ein Asiverhalten habe ich noch nie erlebt.

Dann die lulzige Ernüchterung: Die Treppen hoch zum Saal waren noch zu! Also bildeten sich nochmal vier neue Schlangen im Foyer für eine weitere halbe Stunde. Spätestens da war dann die selbst ausgedachte Nummernregelung komplett für'n Boppes, und manche Hyperfans fingen mit Tränen in den Augen fast an zu hyperventilieren. O_o

Als die Treppen dann auch freigegeben wurde, setzte eine beispiellose Rennerei ein. Treppauf, und dann nochmal weit in die Halle hinein. Das waren Szenen wie vom PS4-Launch in Media Märkten. Ich musste auch mitrennen, sonst wäre ich überrannt worden. Keine Chance, wie in Pamplona. Die Horde bestimmt das Tempo.

Fand mich dann tatsächlich recht zentral in Reihe 1 wieder. Dort setzte dann aber ein unfassbares Hauen und Stechen durch die zuvor so auf gespielte Solidarität geeichten "Not cool"-Girls ein. "I HAVE A DISABLED FRIEND, LET ME THROUGH!" war nur eine der verzweifelten Lügen, die ich da zu Gehör bekam. Ein rundum unwürdiges Schauspiel. Als dann nach fünf Minuten immer noch gedrückt und gedrängelt wurde, hatte ich keinen Bock mehr. Sowas habe ich echt noch nicht erlebt. Habe mich dann mit meiner Frau weiter rechts in Reihe 1 niedergelassen. Die Bühne in der Jahrhunderthalle ist sehr breit, dort blieb es zum Glück entspannter.

Der Support-Act war komplett scheiße. Ein wandelnder Oberlippenbart, bewaffnet nur mit Trommel, Synthethethe und auf Augenhöhe fies blendenden Lichtern. Hat nur genervt, war für mich die reinste Zumutung.

Das Publikum bleib konsequent erstaunlich international. Und jung! Sehr jung! Ob das am Fokus auf Elektromusik lag?

Jedenfalls war das Publikum ziemlich unsympathisch. Viele hingen auch während des Konzerts an ihren Handys, schickten Nachrichten via WhatsApp und Instagram und hotteten dann wieder punktuell gekünstelt ab. Auch das ist mir sonst auf Konzerten fremd. Vor allem in Reihe 1! Und zudem wurde auch viel gequasselt. Russisch, Italienisch...alles vertreten.

In Köln bei "The War on Drugs" kamen wir mal mit einem Holländer in Reihe 1 nett ins Gespräch. Der Herr war schon älter und berichtete, dass er wegen der "Dutch Disease" fast nur noch Konzerte in Deutschland besucht. Diese "Krankheit" beschrieb er damit, dass Holländer die Angewohnheit hätten, sich während Konzerten unentwegt zu unterhalten. Ihm wurden sogar schon mal Schläge angedroht, als er sich darüber beschwerte. Deshalb sei er nur noch auf Konzerten in Köln und Umgebung.

Nach gestern glaube ich eher, dass das eine "Global Disease" ist. Ich bin pro Jahr bestimmt auf 20 Konzerten, und so ein komisches Verhalten erlebe ich sonst nicht. Nicht in diesem Umfang, nicht so nahe am Künstler. Selbst bei Muse am Samstag im Stehblock am anderen Ende des Stadions war das dort sicher mainstreamigere Publikum mehr auf Musik und Künstler konzentriert als gestern teilweise in Reihe 1!

Am Alter liegt das nicht. Bei Wolf Alice letztes Jahr in Heidelberg war das Publikum auch blutjung, aber echt super. Niemand nutzte das Handy für andere Sachen als wenige schnelle Schnappschüsse, jeder konzentrierte sich zu 99% respektvoll auf die Musik (auch bei der Vorband!) und alle gingen richtig gut ab. Das war absolut vorbildlich und machte Mut für die Zukunft der Menschheit!

Das gestern war das genaue Gegenteil davon. Irgendwie wirkte das Publikum auch so...unaufrichtig begeistert. Als wolle man hauptsächlich sagen "Ich habe Thom Yorke gesehen!" - aber eigentlich hat man sich während des Konzerts eher gelangweilt.

Zur Musik selbst: Das war sicher das elektroniklastigste Konzert, das ich je besucht habe. Ich war immer froh, wenn jemand mal eine Bassgitarre in die Hand nahm oder Thom sich ans Klavier setzte. ;-)
Das waren für mich die Highlights, neben den Songs aus dem neuen "Anima"-Kurzfilm auf Netflix und "Unmade" aus Suspiria als Zugabe. Aber ansonsten war das schon eine ziemlich geile Show. Thom Yorke hüpfte quietschvergnügt wie Rumpelstiltzchen über die Bühne und hatte sichtlich Spaß. Die Akustik war super, die Klimaanlage lief vorbildlich, und Yorke kann echt alles. Eine wahnsinnig gute Gesangsleistung lieferte er ab.

Die Bühne in der Jahrhunderthalle ist auch erfreulich flach, das sorgt für zusätzliche Nähe zu den Künstlern. Nur leider lehnten sich ständig Security-Leute direkt an die Bühne, so dass man ständig deren Oberkörper im Blick hatte. Das war schon ein bissi doof, die hätten sich ruhig mal weiter an den Rand stellen können und nicht mitten in die Show.

[https://abload.de/img/img_20190703_211031tujov.jpg]

Egal. War insgesamt ein rundum denkwürdiger Konzertabend mit enormem Anekdotenpotenzial. Ein sehr spezielles Erlebnis mit einer tollen musikalischen Darbietung und vielen schrägen Vögeln um einen herum.

In anderthalb Wochen sehen wir an gleicher Stelle The National. Hoffentlich wird das wieder normaler.


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