Thema:
Re:Mal deine Gedanken sortieren? flat
Autor: token
Datum:07.01.19 18:29
Antwort auf:Re:Mal deine Gedanken sortieren? von Dr. Robotnik

>Okay, ich antworte wirklich ausführlich. Bitte denk darüber auch nach:
>
>Zunächst mal beginnt der Artikel selbst ja mit 1a gepolter und einer Aussage, die in dem Kontext nur so zu verstehen ist wie: "Die sollen erstmal ihre Organe verkaufen, bevor sie hier die Gesellschaft anschnurren".


Zugegeben liefern gleich diverse Zitate im Artikel keine gute Basis für eine konstruktive Diskussion :D
Imo gibt es jedoch einen Kernaspekt der etwas wichtiges herauszeichnet, etwas das mir persönlich in den gängigen Diskussionen mit Extrembeispielen oftmals ein wenig untergeht. Die Wechselwirkungen. Wir haben einen Wirtschafts_kreislauf_, Dinge wie die Höhe einer Sozialpauschale steht nicht isoliert für sich, sondern wirkt sich auf das Lohnniveau aus, so etwas wie ein Lohnniveau wirkt sich wiederum auf eine Beschäftigtenquote aus, eine Beschäftigtenquote wirkt sich wiederum auf die Staatskasse und damit wieder auf so etwas wie Sozialpauschalen aus usw. usw. usw.

Genau hier wird die Diskussion doch spannend, wird aber oftmals schon im Ansatz mit Extrembeispielen abgewürgt. Der Artikel zieht diese Wechselwirkungen von Links auf, du halt von Rechts, beide Darstellungen sind trivialisiert, sie zeigen mögliche Wechselwirkungen auf, ignorieren jedoch die Komplexität des Zusammenspiels wenn man irgendwo am Rädchen dreht.


>Da kann ich mir richtig vorstellen, wie K!M - der das ja kaum gepostet hätte, wenn er es nicht für einen guten Artikel halten würde - schon da sitzt, die Faust ballt und denk: "ja, genau! So sind die da oben!". Das erklärt dann auch das Ende meines Postings.
>

Hach, ich wünschte diese Gabe des Gedankenlesens wäre auch mir vergönnt, vor allem bei Frauen ;)

>Dann zu dem Punkt mit der Sklaverei (und jetzt bitte wirklich auch den Gedanken zulassen):
>Jeder hat das Recht zu sagen "ich will keine Transferleistungen erhalten". Dann bekommt er nichts. Kein Geld und eben auch keine Pflicht zu arbeiten. Somit liegt hier schonmal definitiv keine Sklaverei vor.
>Nun drehen wir den Spieß aber gedanklich mal um:
>Wir beide arbeiten und zahlen unsere Steuern. Jemand anders arbeitet aber nicht, weil er keinen Bock hat und auch keine Sanktionen zu fürchten hat. Denn das (und sogar noch mehr!) wird ja immer gefordert.
>Wer ist nun wessen Sklave?
>

Wir alle sind direkt oder indirekt voneinander abhängig. Wir haben in der Gesellschaft ein komplexes Uhrwerk bei dem die einzelnen Rädchen im Grunde Deals sind. Die Einwertung darüber ob Deals fair oder unfair sind, sollte man jedoch nicht denen überlassen die sie machen, wenn man Objektivität anstrebt.
Angenommen ich mache ein Geschäft mit jemandem von dem ich weiß dass er in einer misslichen Lage ist und entsprechend zu einem Deal gezwungen ist. Darüber kann ich mir einen Handelsvorteil verschaffen und so bessere Konditionen für mich herausholen. Wenn du mich jetzt fragen würdest ob das denn von meiner Seite aus fair ist, könnte ich antworten, natürlich, denn der Handelspartner wird ja keine besseren Konditionen bekommen, wenn er bei meinen Konditionen einschlägt dann sind diese offenbar gut.
Aber ist dem so?
Ist es fair wenn ich einen Mangel von Handlungsoptionen meines Gegenübers ausschlachte?

Betrachtet man die Entwicklung der letzten 30 Jahre sieht man dass die Reduktion von Sozialleistungen im Verbund mit einer gesteigerten Beschäftigungsquote nicht zu dem geführt hat was man eigentlich erwarten würde, nämlich mit einem massiven Rückgang von Sozialausgaben.
Warum ist dem so? Ist dieses Vorgehensmodell wirklich eine Erfolgsgeschichte bei dem man einfach nicht konsequent genug ist und entsprechend noch mehr Druck aufbauen muss? Zahlt man für dieses Vorgehen vielleicht einen Preis? Gibt es eventuell einen Zusammenhang zwischen solchen vom Markt angetriebenen Mechanismen und einem gesellschaftlichen Unfrieden? Gibt es einen Zusammenhang mit gesellschaftlichem Unfrieden und dem globalen Siegeszug von Populisten? Sind Populisten an der Macht und damit einhergehende Destabilisierung bestehender Wirtschaftskreisläufe und die Gefahr von Kriegskonflikten ein industrielles Wunschszenario oder vielleicht doch etwas was dem Markt wieder auf die Füße fällt?


>Mein Standpunkt ist klar: Wer etwas fordert (und ich bin bereit zu geben!) der muss aber auch bereit sein im Rahmen seiner Möglichkeiten beizutragen.
>Und was zumutbar ist, dass ist eben vom Gesetzgeber definiert.
>Und genau das ist für mich auch "freiheitlichen demokratischen Sozialstaat". Es kann ja nicht sein, dass Solidarität eine Einbahnstraße ist.
>

Richtig. Der Gesetzgeber steht ja außerhalb. Er balanciert, er gibt Steuerungsimpulse, schafft Rahmenbedingungen, sorgt für den Interessenausgleich zwischen Bevölkerung und Industrie. Und nochmal, wenn du dir anschaust was so in den letzten 30 Jahren passiert ist, würdest du sagen dass:

a) Der Staat betrachtet die Industrie als Vehikel für den Bürger und ist um Wohlstand in der Breite bestrebt, wird also in seiner Ausgestaltung von Rahmenbedingungen in erster Linie von der Lobby Gesellschaft motiviert.

b) Der Staat betrachtet den Bürger als Vehikel für die Industrie und ist um Wohlstand in der Spitze bestrebt, wird also in seiner Ausgestaltung von Rahmenbedingungen in erster Linie von der Lobby der Mächtigen motiviert.

Diesbezüglich sind die Streichpunkte aus peppis verlinktem Zeit-Artikel hochinteressant. Ich würde gerne mal einen Blick in ein Geschichtsbuch der Zukunft werfen und mir mal die dortige Retrospektive auf die Rolle eines Gerhard Schröder durchlesen...

>Und ich hab das gerade mal durchgerechnet: Mindestlohn auf Vollzeit, da komme ich auf Netto 1.070€ (Steuerklasse I, ohne Kinder). Das ist sicher wenig, reicht aber zum Leben. Und zwar auch hier in der Stadt.
>Interessant und die absolute Wahrheit: Gestern Abend noch bei Freunden gewesen und ne Freundin war auch da. Die ist Sozialpädagogin an einer Schule. Zugegeben ziemlich alternativ (also nicht sehr materiell orientiert) und arbeitet freiwillig 50%. Sie hat mir mal gesagt, dass sie TVöD E9 ist. Das dürfte deshalb etwa 1.150€ entsprechen (abhängig von ihrer Stufe). Freiwillig!
>Also, so viel zu "das reicht nicht zum Leben".
>Nochmal: Trotzdem wenig!
>

Reden wir über leben oder reden wir über existieren?
Ich war mal obwohl ich was im Köpfchen habe auch mal fast ein Jahr lang arbeitslos. Denkst du es wäre angemessen wenn ich gezwungen würde meine Qualifikation zum Bruchteil meines Marktwertes einsetzen zu müssen, wenn irgendwas doofes passiert? Denkst du dass nur die Sparte Postbote von so einem Zweiklassenmodell betroffen werden könnte wo alle das gleiche machen und alle die gleiche Uniform tragen, aber dennoch die Vergütung komplett anders ausfällt. Denkst du, du selbst bist irgendwie so geil dass wenn du mal 50 bist im Wettbewerb mit unseren leistungsgedrillten Kindern noch was zu melden hast? Dass deine Kompetenzen nicht automatisierbar sind, oder auch deutlich günstiger verfügbar werden könnten perspektivisch? Und selbst wenn, hast du perspektivisch Bock auf einen walled garden wo außerhalb des Zauns riots am Start sind weil die Gesellschaft rebelliert? Meinst du so ein Szenario sei abstrus wenn wir den Kurs den wir als Gesellschaft fahren ohne Korrektiv weiter verfolgen?


>Und zum Schluss:
>Ich hätte gerne mehr Leute wie Clara (die Sozialpädagogin von gestern) die nicht nur auf Status durch materielles fixiert sind. Und ich würde Reichtum gerne fairer verteilen.
>Aber bitte weltweit. Der Witz: Wenn das passiert verliert der Hartz IV Empfänger eher an Wohlstand als dass er was dazu bekommen würde.
>Und: Mit Fair meine ich eben wirklich fair. Fair ist nicht es blind nach unten durch zu reichen.
>

Natürlich nicht, es geht ja längst nicht mehr um Unten sondern um Breite, es spricht nichts gegen gesunden Egoismus bei Privilegierten. Aber ich denke, auch wenn man den hat kann man aktuell selbst dann wenn es einem gut geht nicht wirklich zufrieden sein. Stumpf FDP-Slogans aus 90ern runterzubeten ist sicher kein Modell mit dem man den aktuellen Herausforderungen Herr wird. Was ich mir persönlich in erster Linie wünsche ist ein Staat der sich wieder so weit von der Industrie emanzipiert als dass er Entscheidungen trifft die ihn wieder nach deutlich mehr ausschauen lassen, als einen Erfüllungsgehilfen für Industrieinteressen. Auch im Sinne der Industrie, die agiert nämlich nicht nach einem Modell das sich langfristig orientiert und um perspektivische Tragfähigkeit bemüht.

>Ich bin aber so realistisch, dass ich weiß, dass die Leute immer nur mehr mehr mehr wollen und die Spirale deshalb weiter laufen wird.
>Das ist auch die Entwicklung die ich sehe.
>

Ja, an allen Fronten. Auch derjenigen die gerade sehr viel zu kamellen hat, die Power hat. Darüber könnte man nachdenken.


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