Thema:
Re:Gewaltfreie Erziehung flat
Autor: Phil Gates
Datum:24.10.18 11:33
Antwort auf:Re:Gewaltfreie Erziehung von Masakari

>>Krasse Scheiße, wie alt bist Du denn?? Ich werde jetzt 37 und kann mich nur an ein einziges Mal erinnern, wo mir mein Vater eine gescheuert hat. Und ich hatte es verdient.
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>Bei mir sind die Rahmenbedingungen ähnlich wie bei token. Reduziert auf Alter und Herkunft gibt es Parallelen. Nach meinem Verständnis ist der Zeitgeist und das kulturell bedingte Verständnis von Erziehung jedoch als alleinige Erklärung nicht ausreichend. Falls es danach klingt, so soll dies tokens Argumentation keinesfalls untergraben. Ich erwähne das nur nochmal gesondert, um es deiner Verwunderung gegenüberzustellen.
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>Ich nehme mal das Jetzt vorweg: Im Nachhinein finde ich das Verhalten meiner Eltern nachvollziehbar. Mein Verhältnis zu ihnen ist sehr gut, wir sehen uns oft und regelmäßig. Ich bin ihnen keinen Deut böse. Umgekehrt genauso.
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>Damals als Kind und Jugendlicher war das ganz und gar nicht so. Da fehlte mir der weitere Blick, um das, was mit mir und um mich geschah, im Kontext zu sehen. Begünstigt wurde das freilich dadurch, dass meine Eltern ihre Sorgen und Nöte von uns Kindern weitestgehend fernhielten. Das klingt zunächst nach einem durchaus angemessenen Vorgehen, möchte man seinem Nachwuchs eine unbeschwerte Kindheit ermöglichen. Die Gleichung geht nur leider nicht auf, wenn das Projekt 'Glückliche Kindheit' nicht ganz so reibungslos klappen mag und zwei der wirksamsten Mittel die Aufschrift 'Reden' und 'Verstehen' tragen.
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>In meiner eng gefassten Welt wurde ich wegen Kleinigkeiten geschlagen. Der körperliche Schmerz war dabei nicht das Tragische, vielmehr die als ungerecht empfundene Machtausübung und Erniedrigung und -hier kommt es wieder- das fehlende Verständnis für die Unverhältnismäßigkeit der Reaktion meiner Eltern. Schnell kam ich auf den Trichter, dass kullernde Tränen den durch Hausschuhe, Gürtel und sonstige Haushaltsgegenstände geführten Prozess verkürzen - wenn auch nur bei meiner Mam. Geweint wurde also primär nicht, weil es wehtat. Anders bei meinem Vater. Er brauchte kein Werkzeug. Wenn Hausschuhe & Co. bei meiner Mam wirkungslos blieben, reichte die bloße Ankündigung als Abschreckung, meinen Vater zu Rate zu ziehen. Dann war Ruhe. Und falls nicht, so wusste ich, dass man mir eine Chance gegeben hatte.
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>Dass dem Ganzen kein Programm zugrunde lag, deutet schon darauf hin, dass bei meinen Eltern zwar schon meine Erziehung im Vordergrund stand - jedoch weniger weitsichtig in der Durchführung als bei token.
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>Mit der Zeit lässt man das Kindsein hinter sich. Die Reibungspunkte werden weniger, bei mir paradoxerweise mit dem Jugendalter. Man lernt, sich rechtzeitig aus dem Weg zu gehen.
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>Über die nachfolgenden Jahre verteilt sickerte immer mehr durch, wie es meinen Eltern zu der Zeit eigentlich ging.
>Wir hatten nicht viel, als wir hier ankamen. Kaum Sprachkenntnisse, kein eigenes Geld, kein Job. Meine Mutter ist studierte Meteorologin mit Berufserfahrung. Hier ohne praktischen Wert. Muss aus pragmatischen Gründen wie z.B. 'Geld verdienen für Wohnung und Essen' auf eine Karriere als Sekretärin umschwenken. Sprachkurse kommen hinzu und am Abend noch Putzen in irgendwelchen Firmen. Meinem Vater ergeht es ähnlich. Zwecks Betreuung der eigenen Kinder entscheidet er sich für die Spätschicht. Viel voneinander bleibt da nicht. Auf den Ämtern werden sie behandelt wie Trottel. Die Damen und Herren hinter den Schaltern verwechseln mangelnde Sprachkenntnisse mit Dummheit. Ausländerfeindliche Sprüche fallen wiederholt. Dabei sind und waren wir immer Deutsche. Und dann sind da noch irgendwie zwei Kinder. Ihnen soll es gut gehen, es soll alles in Kindergarten und Schule klappen. Sie sollen sich gut integrieren. Meine Eltern springen von Ausbildung zu Kurs zu Amt zu Kindergarten zu Nebenjob. Für Butter und eine Scheibe Wurst auf dem Toastbrot und 20 qm für 4 Menschen.
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>Das alles hätte gereicht, um meine Eltern zu tragen.
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>Was ihnen das Genick brach, war der Mangel an Dankbarkeit und Respekt ihrer eigenen Kinder. Familie war kein Ort der Ruhe, kein Motivator, die ganzen Lasten außerhalb zu stemmen. Familie wurde zu einem Ort, an dem der letzte Hauch Leben aus einem gesogen wurde.
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>Ein prägendes Ereignis, welches stellvertretend für viele andere in diesen Jahren stehen soll: Ein Pulk aus einem halben Dutzend Kinder und Jugendlicher jagen mich "Scheiss Ausländer raus"-brüllend und spuckend durch die Straße. Ziemlich viel Adrenalin für einen ziemlich kleinen Körper. Da war einer aus meiner damaligen Klasse, er stammte aus dem arabischen Raum und hat mir und meinem davoneilenden Rücken, zusammen mit den anderen im Pulk, lautstark nahegelegt, ich passte nicht so recht nach Deutschland. Letztendlich war er wahrscheinlich nur froh, dass sie nicht ihn durch die Gasse gehetzt haben. Dauerthema war auch die Altkleidersammlung, die ich an mir trug.
>Dieser Frust findet irgendwann seinen Weg nach Hause. Meine Eltern wussten von alledem nichts. Was sie jedoch wussten, war meine starke Abneigung allem gegenüber, was mit diesem Land zu tun hatte. Von was sie wussten, war meine Wut darüber, dass sie so wenig Geld verdienten. Das hatte ich ihnen oft genug gesagt.
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>Reden hätte geholfen. In der komfortablen Situation, in der ich mich nun befinde, ebenso wie sich die meisten anderen von uns befinden, ist es einfach zu sagen, man wird seine Kinder nie schlagen. Mit meiner Tochter pflege ich einen ganz anderen Umgang als meine Eltern damals mit mir. Im vollen Bewusstsein, dass ich in der glücklichen Situation bin, eben dies tun zu können.
>Was kritischer Ballast mit einem macht, sieht man, wenn er nicht mehr da ist.


Danke für die interessante Geschichte. Meine Frau ist Kind von Russlanddeutschen, die hat glaube ich auch hin und wieder Schläge bezogen. Denen ging es allerdings wirtschaftlich ziemlich gut, die kannten es nur vermutlich nicht anders, siehe token.

Meine Eltern sind in der Tat anders sozialisiert. Meine Mutter ist mit wundervollen Eltern aufgewachsen, ich kann mir nicht vorstellen, dass es da jemals Schläge gab. Mein Vater stammt aus einem erzkonservativen Doppelakademikerhaushalt mit Kindermädchen, Haushaltshilfe usw. Mein Großvater war sehr streng und wir Kinder hatten durchaus Angst vor ihm. Mein Vater sagte aber, sein Vater sei sehr introvertiert gewesen, hätte viel gearbeitet und sich dann in sein Zimmer zurückgezogen und philosophische Bücher gelesen. Zwar war er durchaus cholerisch, aber das hat die Kinder wohl davor bewahrt, dass sie das regelmäßig körperlich zu spüren bekommen haben, weil er sich halt gar nicht um sie gekümmert hat. Das ist sicher auch ein Grund, warum mein Vater jetzt erst langsam Opa-Gefühle entwickelt.

Jedenfalls habe ich wie gesagt nach meiner Erinnerung nur einmal eine gelangt bekommen, und das war durchaus verdient. Meinem Vater hat das auch leid getan.


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