Thema:
Was ich in den letzten Wochen gelesen hab...(Teil 7) flat
Autor: Jassi
Datum:26.12.15 11:14
Antwort auf:Bücher Thread #5 von Faerun

Fjodor Dostojewski - Weiße Nächte: Ein empfindsamer Roman (Aus den Erinnerungen eines Träumers)

[http://www.amazon.de/Wei-e-N-chte-empfindsamer-Erinnerungen-Tr-umers/dp/3866471815/]

Da ich mir noch etwas Zeit lassen wollte bis ich die letzen drei von Dostojewskis großen Romanen lese, hab ich mir diese Erzählung als kleine Zwischenmahlzeit gegönnt bei der es um eine ewig gleiche Geschichte geht, die sicher auch so manchem
hier im Forum (persönlich) bekannt sein durfte: Er trifft Sie. Beide erzählen sich ihre Lebensgeschichte. Sie wurde wohl sitzengelassen. Er verliebt sich in die Sitzengelassene und diese will auch von ihrem Typen nichts mehr wissen. Aber es kommt wie es kommen muß: Typ meldet sich, Sie ist weg und er ist allein allein... und freut sich für die beiden....auch noch dreißig Jahre später. Tja, so ist es eben, es muß Trauer geben.

Das ist das schöne an Literatur. Man kann alles spoilern und trotzdem lohnt es sich das Büchlein zu lesen.




Javier Marías - Mein Herz so weiß

[http://www.amazon.de/Mein-Herz-so-wei%C3%9F-Literatur/dp/3596194598/]

"Literarische los Wochos bei Jassi" - ich dachte mir irgendwann, daß ich mich zu neuen Ufern begeben sollte. D, RUS und F hatte ich schon zu genüge erkundet, den angelsächsichen Raum wollte ich weitestgehend erstmal meiden. Im nächsten Jahr sind
ganz klar Afrika und Japan als zukünftige Leseziele ausgemacht, aber den Anfang sollte Lateinamerika bilden. Hier bat es sich an erstmal einen waschechten Spanier zu lesen, bevor ich den Sprung über den großen Teich wagte.

Auf Javier Marias bin ich bei meinen "Recherchen" zu Imre Kertezs über folgendes Video gestoßen.

[https://www.youtube.com/watch?v=cNjL0BR0pSo&feature=youtu.be&t=1469]


Ganz so vom Hocker gehauen wie diese vier Herrschaften hat mich dieser Roman jetzt nicht ganz, aber dennoch war auch ich sehr angetan. Marias' Beobachtungen fließen wunderbar in die Aussagen und Handlungen seiner Figuren ein, feinfühlig versteht er es die dunklen Seiten der menschlichen Seele auszuleuchten. Und da ich gerade für's letztere ein Faible hab (später dazu mehr), wird dies sicher nicht mein zuletzt gelesener Roman von Javier Marias sein.





Octavio Paz - Das Labyrinth der Einsamkeit

[http://www.amazon.de/Das-Labyrinth-Einsamkeit-suhrkamp-taschenbuch/dp/351839472X/]

Ein Essay über die mexikanische Seele. Dabei nähert sich O. Paz dem Thema nicht nur hochkulturell, sondern geht auch auf jugendliche Subkultur (Pachucos) und Vulgärsprache (chingar) ein. Das Wort "chingar" hat für das mexikanische Spanische vielleicht noch eine wichtigere Bedeutung als "fuck" im amerikanischen Englisch oder "Scheiße" im Deutschen. Ich würde es dem serbokroatischen "jebati" gleichsetzen. Wessen Interesse also für Mexiko über Tacos und Totenkult hinausgeht, sollte diesen Essay nicht auslassen.





Gabriel García Márquez - Hundert Jahre Einsamkeit

[http://www.amazon.de/Hundert-Einsamkeit-Gabriel-Garc-a-M-rquez/dp/3462037226/?_encoding=UTF8&qid=&sr=]


Die kolumbianische Version der Buddenbrooks hab ich mal irgendwo gelesen und ich finde dies recht treffend - und dann wieder auch nicht. Letzteres vor allem deswegen, weil dieser Roman zu den wichtigsten Vertretern des Magischen Realismus zählt. (Wer die Serie Narcos gesehen hat, der erinnert sich an die Texteinblendung zu Anfang der allerersten Folge.) Marquez' "zauberhafte" Schreibweise hat zudem eher was von Hermann Hesse denn von Thomas Manns Nüchternheit. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Familienepos, daß die typische Mentalität aufzeigt. Während aber Thomas Mann sich beim Thema Sex distinguiert zurückhält, läßt Marquez seine Figuren leidenschaftlich grunzen, schmatzen und wenn der Trieb einen zum Inzest verleitet, dann ist es eben so.
Auch sonst kommt es zu Handlungen aus Leidenschaft, die einem hierzulande fremd wirken, die aber die Figuren aus Javier Marias' o.g. Roman sehr wohl kennen.
Schade fand ich für mich, daß ich mich in der lateinamerikanischen Geschichte leider nur kaum bis eigentlich gar nicht auskenne, denn letztendlich ist dieser Roman auch eine Allegorie darauf. Ich bin mir 100%ig sicher, daß dieses Werk auf einen Jassíño ein weitaus größeren "Impact" gehabt hätte.
Zum Schluß noch ein kleiner Tipp am Rande vor mir für die Leute, die gedenken diesen Roman zu lesen: Dank der ganzen Homonym ist es wirklich ratsam hin und wieder einen Blick auf den Stammbaum zu werfen, um beim Folgen der Geschichte nicht durcheinander zu kommen.

[https://de.wikipedia.org/wiki/Hundert_Jahre_Einsamkeit#/media/File:Stammbaum.jpeg]  





Michael Lüders - Wer den Wind sät: Was westliche Politik im Orient anrichtet

[http://www.amazon.de/Wer-den-Wind-s%C3%A4t-westliche/dp/3406677495]


Was Gabriele Krone-Schmalz für Russland, ist Michael Lüders für Nahost. Lüders war mir - wie längst auch schon Krone-Schmalz - immer wieder im TV durch seinen Diskussionsstil aufgefallen, der nicht politisch gefärbt war, sondern mich durch sachlich vorgetragene Argumentationen überzeugte, die auf Fachwissen samt vor Ort erworbenen Kenntnissen fußten.  


Wer eine Kurzfassung des Buches will, der greife hierzu:

[https://www.youtube.com/watch?v=JwMADtR--U8]


Falls sich jedich jemand interessierter für das Thema zeigt, aber dennoch zu lesefaul ist, dem sei dieser Vortrag empfohlen, der sogar hier bei mir in Heidelberg gehalten wurde:

[https://www.youtube.com/watch?v=syygOaRlwNE]


Das Buch ist absolut lesenswert, hat es mir doch endlich einen klareren Einblick auf die ganzen Krisen samt ihrer Konstellationen erlaubt. Ja sicher, man kann Lüders vorwerfen, daß er damit noch immer nur an der Oberfläche kratzt, weil doch das alles viel zu komplex sei...yada, yada, yada.
Dennoch möchte ich hier einen Gedanken loswerden, der mich schon seit längerem wurmt. Und zwar geht es um hochbrisante tagespolitische Themen und wie mit ihnen umgegangen wird. Bestes Beispiel sind hierfür die Anschläge in Paris. Anstatt etwas Zeit vergehen zu lassen, in der man sich sammeln und die Gemüter herunterkühlen lassen könnte und vor allem abzuwarten, um zu sicheren Erkenntnissen zu gelangen, verfällt man in einen Wahn, den es im viertelstündlichen Takt zu aktualisieren gilt. Gleich einem Hochwasserstand werden Todesopferzahlen durchgegeben und der Konjunktiv hat in sämtlichen Medien die Oberhand gewonnen. "XY kann nicht ausgeschlossen", ist wohl der beliebteste Satz der Reporter vor Ort.





Rüdiger Safranski - Wieviel Wahrheit braucht der Mensch? Über das Denkbare und das Lebbare

[http://www.amazon.de/Wieviel-Wahrheit-Denkbare-Lebbare-Wissenschaft/dp/3596109779]

Vorneweg möchte ich anmerken, daß ich R.Safranski vor ein paar Wochen live erlebt hab, als er sein neueste Buch über die Zeit vorgestellt hatund anschließend in einem Podiumsgespräch interviewt wurde. Aber genug von meinem Fanboytum...


Ich muß zugeben, daß dieses Buch mir nicht ganz so gut wie alle anderen gefallen hat, aber es deswegen keinesfalls schlecht ist. FolgenderAbsatz hat mir z.B. sehr gut gefallen:

"Der Heuchler gibt vor, an der Moral festzuhalten, und verstößt heimlich gegen sie, wenn es sein Interesse verlangt. Der Zyniker ist die Komplementärfigur des Heuchlers. Er löst den heuchlerischen Widerspruch zwischen dem öffentlich Festhalten an der Moral und ihrer heimlichen Übertretung auf, indem er auch öffentlich eine Position jenseits aller Moral einnimmt."


Es ist schon spannend wie Safranski an den Beispielen von Rosseau, Kleist und Nietzsche jeweils einen anderen Blickwinkel auf das Verständnis von Wahrheit gewährt. Noch extremer wird es, wenn er die Wahrheit der NS-Zeit unter die Lupe nimmt, sie später aus den Augen des Landvermessers Josef K. (Kafka - Das Schloß) untersucht, um zum Schluß zu gelangen, daß das Denkbare und das Lebbare nicht zu vereinen sind.So könne man jedem seine kulturelle Freiheit zugestehen, jeder kann seine eigene subjektive Wahrheit haben. Wenn es aber um die politische Freiheit
geht, dann ist eine gewisse Objektivität von Nöten.






Nikolai Gogol - Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen

[http://www.amazon.de/Aufzeichnungen-eines-Wahnsinnigen-Nikolai-Gogol/dp/3866472366]


Ich bleib dabei: Gogol ist ein Troll :D

Diese Ausgabe beinhaltet die Erzählungen "Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen" und "Der Newski-Prospekt", aber ich möchte zu beiden nix schreiben, da ich finde man sollte auf Gogol möglichst ohne Vorkenntnisse treffen. Jaja, ich weiß, was ich zu Spoilern in der Literatur geschrieben hab... Was interessiert mich mein Geschreibsel von vorhin?






Fjodor Dostojewski - Die Sanfte

[http://www.amazon.de/Die-Sanfte-fantastische-Erz%C3%A4hlung-Klassiker/dp/3866475012/]

Boah, was ist dieses Ding mies! Also nicht mies im Sinne von schlecht, sondern im Sinne von gemein. Dostojewski ist nun einmal der absolute Chefkäse, wenn es um Psychogramme geht. "Wir finden in den Büchern immer nur uns selbst. Komisch, daß dann allemal die Freude groß ist und wir den Autor zum Genie erklären", hab ich Thomas Mann hier schon einmal zitiert. Vielleicht hat es mir deshalb "Die Sanfte"
angetan, weil in mir vielleicht mehr vom Pfandleiher steckt als ich es gern hätte und mich beschämt zurückläßt.






Franz Kafka - Brief an den Vater

[http://www.amazon.de/Brief-den-Vater-Franz-Kafka/dp/3866473060/]

Ich muß leider zugeben, daß ich früher fast die komplette Schullaufbahn hindurch die Person Kafkas verachtete. Auch wenn einige seiner Kurzgeschichten wie z.B. "Gibs auf" mir von Anfang sehr gut gefielen, betrachtete ich ihn wie ein Jungliberaler einen Hartz4-Empfänger. Dennoch hatte sich dieses Foto hier aus meinem Deutschbuch damals tief in mein Hirn gebrannt.

[https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/6/69/De_Kafka_Brief_an_den_Vater_001.jpg/220px-De_Kafka_Brief_an_den_Vater_001.jpg]

Mit "Der Proceß" schließlich war meine Verachtung dann wie weggeblasen, die Faszination aber blieb und wuchs.






Rüdiger Safranski - Nietzsche - Biographie seines Denkens

[http://www.amazon.de/Nietzsche-Biographie-seines-Denkens-Wissenschaft/dp/3596151813]

Wie ich schon mal schrieb: Wenn ich glaube von einem Autor alles Nötige gelesen zu haben, darf das zum Abschluß ruhig mit einer Biografie über ihn abgerundet werden. M.E. sollte man erst das Werk für sich selber sprechen lassen, bevor man sich mit seinem Hintergrund beschäftigt.
Leider hatte ich von Safranski hier zu sehr eine Art zweiter Schopenhauer-Bio erwartet, was mich anfangs etwas enttäuscht ließ. Dabei besagt die Tagline explizit, daß es eine Biographie seines Denkens und nicht seines Lebens ist. Aber die Enttäuschung wich bald, da mir dieses Buch als Repetitorium dienlich wurde. Zumal Safranski wirklich genügend biographischen Input liefert wie mir dann im Nachhinein aufgefallen ist.
Wer sich einen Überblick über das nietzscheanischen Denken verschaffen, für den ist das Buch hier die erste Wahl.






Szilárd Borbély - Die Mittellosen

[http://www.amazon.de/Die-Mittellosen-Roman-Szil%C3%A1rd-Borb%C3%A9ly/dp/3518424505/]

Auf diesen Roman bin ich hierdurch aufmerksam geworden:

[http://www.srf.ch/play/tv/literaturclub/video/die-mittelosen-von-szilard-borbely-suhrkamp?id=1e7f69da-750d-4ba0-9f46-01c18de7f331]

Schon beim Schauen der Sendung war mir klar, daß ich das lesen muß. Auch auf die Gefahren mich zu wiederholen, aber die seelischen Abgründe, das Befassen mit Leid,Tod und sonstigen negativen Gefühlen bannt mich. Kunst, die sich aus der inneren Zerissenheit des Künstlers manifestiert, läßt perversweise mich innerlich jauchzen, da sie mich wirklich berührt. (Kein Wunder also, daß Infinite Jest
ganz oben auf meiner To-Read-Liste steht)

Und was soll ich zu die "Die Mittellosen" sagen?

ICH BIN BEGEISTERT! Meine Fresse, was ist das Ding für eine Granate. Die Nähe zu Imre Kertesz läßt sich wirklich nicht leugnen, ich will aich nicht viel weitere Worte darüber verlieren, als nur eine ganz klare Leseempfehlung auszusprechen. Es würde sonst wirklich ausarten. Ich will es mal so formulieren: Wer den Werken von Käthe Kollwitz was abgewinnen kann oder Filmen wie "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage", für den ist dieses Roman Pflicht.






Franz Kafka - In der Strafkolonie

[http://www.amazon.de/Strafkolonie-Ein-Landarzt-Hungerk%C3%BCnstler/dp/3866476337]

Diese Ausgabe beinhaltet neben der Novelle "In der Strafkolonie" auch die Erzählsammlungen "Ein Landarzt" und "Ein Hungerkünstler". Phillipp Zimbardo hat in seinem Buch "Der Luzifer-Effekt" auf "In der Strafkolonie" hingewiesen. Auch wenn mir nur wenige der ganzen Erzählungen kaum gefallen haben und einige dabei waren, die ich richtig gut fand, bleiben die Romane weiterhin meine Lieblinge.






Thomas Bernhard - Das Kalkwerk

[http://www.amazon.de/Das-Kalkwerk-Roman-suhrkamp-taschenbuch/dp/3518366289]


Puh, das Ding ist durchgängig im Konjunktiv I(!) geschrieben. An die indirekte Rede samt ständiger Inquit-Formel galt es sich erstmal
zu gewöhnen. Eins muß man aber Bernhard lassen, er macht keine Kompromisse. Wirklich keine Kompromisse!

"Fro sagt, er, Konrad, mache das Fenster auf und höre die Äste der Fichten, er mache das Fenster über dem Wasser auf und höre das Wasser. Vollkommene Windstille bedeute aber nicht, dass er die Äste der Fichte nicht höre, das Wasser nicht höre, das Auge nehme keinerlei Bewegung in den Fichten wahr, keinerlei Wasserbewegung, trotzdem höre er Fichten und Wasser. Er höre die unaufhörliche Bewegung der Luft. Nimmt auch das Auge nicht die geringste Bewegung auf der Wasseroberfläche wahr, so höre er doch die Bewegung auf der Wasseroberfläche, oder: die Bewegung in der Tiefe des Wassers, Geräusche von Bewegungen in der Wassertiefe. Aus der tiefsten Stelle höre er die Bewegung herauf und immer wieder soll er gesagt haben, nicht nur zu Fro, auch zu Wieser, unter meinem Fenster ist, wie Sie wissen, die tiefste Stelle, gerade unter meinem Fenster, als ob ich das immer gewusst hätte, dass unter meinem Fenster die tiefste Stelle ist. Naturgemäß höre aus dieser tiefsten Stelle immer nur das auf diese tiefste Stelle des Wassers geschulte Ohr Geräusche herauf, das auf diese tiefste Stelle geschulte Gehör, ein anderes Gehör hört aus dieser tiefsten Wassertiefe nichts, alle meine Versuchspersonen hören nichts herauf, ich kann mit wem immer hier am Fenster stehen, soll er zu Fro gesagt haben, und fragen, hören Sie etwas aus dem Wasser herauf?, und der Gefragte antwortet, nein, er höre nichts. Und naturgemäß höre ich nicht nur ein einziges, ich höre viele Tausende von Geräuschen herauf und alle diese Tausenden von Geräuschen kann ich untereinander unterscheiden."


Oder hört dem Meister erstmal selbst zu:

[https://www.youtube.com/watch?v=Dlz35bPu_9Y]


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