Thema:
Re:Werden wir im Herbst eine Zweiklassen Gesellschaft haben flat
Autor: token
Datum:22.06.21 10:03
Antwort auf:Re:Werden wir im Herbst eine Zweiklassen Gesellschaft haben von Phil Gates

>Noch ein Satz zum Gleichheitsgrundsatz:
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>Das ist etwas komplexer. Ungleichbehandlungen sind erlaubt, wenn entweder die Sachverhalte nicht vergleichbar sind oder es einen sachlichen Grund für die Ungleichbehandlung gibt. Der sachliche Grund wären hier die Impfungen.
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Ich wollte eh nicht in so eine Richtung weil man die Gesetzeslage imo nicht zerkopfen muss. In einem Katastrophenfall wo eigene Bürger sterben muss man handlungsfähig sein. Die last ressort Handlung in der Pandemie ist ein Lockdown.
Dass ein Staat sagt, sorry folks, ja, unser Gesundheitssystem ist zusammen gebrochen, aber die Gerichte sagen "nope", da müssen wir jetzt wohl durch, sehe ich nicht kommen und ist auch nix womit ich mich beschäftigen wollen würde. Weil was genau der rechtliche Unterbau in solchen Konstellationen ist interessiert mich nicht, noch würde ich es verstehen weil mir die Expertise fehlt.

Ich brauch aber keine Expertise um zu verstehen dass ein Staat auch im Katastrophenfall in der Lage sein muss sich zu managen, und entsprechend gehe ich davon aus dass bei analogen Entwicklungen wie in der Vergangenheit (moderate Eindämmungsversuche mit Regeln scheitern, Ansteckungen steigen exponentiell) die aufzeigen, wir kriegen es nicht in den Griff, Staat in der Lage ist zu tun wovon er denkt dass er es tun muss wenn es keine anderen Mittel mehr gibt.

Wenn dem nicht so wäre könnte sich der Staat auch gleich abschaffen, weil er damit eingestehen würde dass er im Krisenfall strukturell so aufgestellt ist, dass er in einer solchen handlungsunfähig werden kann. Und das kann ich mir beileibe nicht vorstellen, entsprechend gehe ich davon aus dass das Recht in solchen Ausnahmesituationen auch entsprechende Wege hat so ein Szenario zu vermeiden, und sehe das durch weltweite Lockdownmassnahmen in freiheitlichen Staaten mit Grundrechten erstmal bestätigt, nicht dass ich es je angezweifelt hätte.

Dieser ganze Ast ist für mich persönlich entsprechend eine Phantomdiskussion die etwas grundsätzlich einfaches unnötig verkompliziert und damit den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht.

Und da kommt mein Ausgangspost her, nicht über Gesetze muss man nachdenken, sondern darüber ob die Dynamik der Pandemie trotz hoher Impfquote auch in naher Zukunft so eskalieren könnte, dass man zur last ressort Maßnahme greifen muss.

Die Experten sagen nein, und wenn ich gegen mich selbst argumentieren müsste, würde ich mir genau das um die Ohren knallen. Und vollkommen zu Recht.

Aber mein Fahrgefühl ist halt beim Blick auf die Zahlen, das kann ein knappes Höschen werden, weil es diverse Effekte gibt die auch gegen uns arbeiten.
Ja, gehen wir davon aus wir stehen im Herbst bei einer ordentlichen Zweitimpfungsquote. Vorrangig sind Risikogruppen geimpft worden, das schützt das Gesundheitssystem zusätzlich weil die Wahrscheinlichkeit schwerer Fälle sinkt.

Aber es gibt auch eine andere Seite der Medaille.
Zum einen, die reine Bevölkerungsmasse ist weiterhin mehr als ausreichend um die Intensivbetten zu stressen. Auch damit können noch genug Leute in einem kurzen Zeitraum erkranken als dass es hier ins Wackeln gerät. Wahrscheinlichkeiten für schwere Verläufe sinken, aber faktorisiert man solche Prozentwerte mit einem entsprechend hohen Erkrankungswert ist die Rohmasse zur Krise halt weiterhin vorhanden.

Die bis dahin Ungeimpften sind im Schnitt jünger, also durchaus weniger gefährdet einen schweren Verlauf abzukriegen, sie sind aber auch mobiler als Oma Trudi, sprich, schwerer Verlauf unwahrscheinlicher, aber auch, in einem gelockerten Gesellschaftsalltag ist auch die Ansteckungswahrscheinlichkeit durch höhere Mobilität höher. Wenn sich insgesamt zu viele Menschen in zu kurzem Zeitraum anstecken würde damit eine niedrigere Hospitalisierungsrate im schlimmsten Fall überkompensiert. Sobald das Wachstum exponentiell wird hat man verloren und muss reagieren, das darf nicht passieren, nur schert sich die Realität herzlich wenig darum was nicht passieren darf weil wir das nicht wollen.

Weiter zur Regulation. Man kann Betreiber in die Pflicht der nehmen und so Kontrollfunktionen in die Breite delegieren. Auch da könnte es wenn das ganze Land brummt schwierig werden noch den Betreiber zu kontrollieren ob er diese Pflicht auch so wie vorgesehen wahrnimmt. Ich gehe davon aus dass einige Dorfkneipen die bei harschen Regulierungen noch aufflogen, damit durchschlüpfen können und es solche Fälle gibt. Aber das begreife ich noch nicht mal als das eigentliche Drohpotenzial. Das sehe ich in privaten Zusammenkünften wo man vielleicht noch an die Vernunft appellieren kann, aber NICHTS mehr kontrollieren kann wenn das halbe Land den Yolo-Schein hat und solche Veranstaltungen grundsätzlich wieder freigestellt sind, selbst wenn man das unter Auflagen täte.  

Ein solches Szenario entzieht sich aufgrund der Masse der Kontrollierbarkeit.
Tja, und was haben wir da?
Wir haben immer noch eine hohe zweistellige Millionenzahl ungeschützter Bürger, die immer noch höher ist als manche Gesamtbevölkerungszahl bei Nachbarstaaten.
Wenn ich bis dahin allen Bürgern ein Impfangebot gemacht habe, dann gehe ich davon aus dass genau diese Bürger entweder Jugendliche sind, denen ich nicht so ganz zutraue nicht auch auf Yolo zu schalten wenn es das halbe Land wieder darf, als Jugendlicher fühlst du dich eh unbesiegbar. Dann wird das Risiko auch genommen, wenn du dich in den Präsenzunterricht setzen kannst, dann ist es auch schwer vermittelbar warum andere Dinge nun nicht gehen sollten.

Und du hast den Rest an Menschen die sich bewusst gegen eine Impfung entscheiden. Und auch da rechne ich eher nicht damit dass gerade diese Gruppe noch auf Selbstdisziplin, Pandemie ausreichend ernst nehmen etc. getrimmt ist, sondern genau diese Gruppe da grundsätzliche Verhaltensdefizite mitbringt und natürlich alles durchzieht was für sie durchziehbar ist. Beim Konzert wird noch der Schnelltest geholt, weil muss man, bei der Geburtstagsfeier die Scheibenwischergeste rausgeholt wenn das Geburtstagskind auf sowas bestünde.

Jetzt zu den Schutzquoten. Im Querschnitt haben wir mehr Geimpfte als Ungeimpfte, aber wir haben Prio-Impfungen gemacht. Private Veranstaltungen bilden jedoch keinen Querschnitt der Gesamtbevölkerung ab, auf einer privaten Tanzfeier bringt ja nicht jeder seine Großeltern mit, als Beispiel. Heißt, das Verhältnis auf genau solchen Events ist anders gelagert, es kippt nun mathematisch zu einem im Vergleich zum Bevölkerungsschnitt verhältnismäßig höheren Anteil Ungeimpfter auf genau den Events die risikobehaftet sind.

Und zuletzt noch Virusmutationen, wo nun durch Impfschutz Evolutionsvorteile für aggressivere Varianten entstehen die sich entsprechend schnell durchsetzen und dominieren, wo sie unter geringem Impfschutz einfach noch nebenher rumgepimmelt haben, und Delta wahrscheinlich auch nicht der letzte Streich war.

Ich sehe keinen Grund den Teufel an die Wand zu malen, aber für meinen Geschmack werden den Dingen die für uns arbeiten auch ausreichend Dinge entgegen geworfen die gegen uns arbeiten. Alles ist für meinen Geschmack noch mit derart vielen Unwägbarkeiten behaftet dass es mir persönlich noch zu früh ist um jetzt schon die großen Entwarnungssignale zu senden. Wir sind müde, wir sind durch, wir haben kein Bock mehr auf die Scheiße, das ist menschlich, aber eben deswegen merke ich ja auch schon bei mir selbst wie ich mich bewusst disziplinieren muss indem ich mir vor Augen halte, Junge, du hast die Nadel in den Arm bekommen, aber einen Impfschutz hast du nicht. Corona macht gerade Halbgas, aber weg isses nicht. Bleib vernünftig und werd nicht zu forsch.

Und genau das ist dann auch der gesellschaftlich rote Faden in der Pandemie. Lockerungssehnsucht an allen Fronten resultiert in zu forschen Ambitionen, Bedenkenträgern wird ablehnend begegnet, und wenn man merkt dass die positiven Annahmen ausbleiben steht man wiederholt nicht ausreichend vorbereitet da um so eine Entwicklung mit moderaten Maßnahmen einzufangen. Das ist das "Und täglich grüßt das Murmeltier" dieser Pandemie.

Da wünsche ich mir einfach mehr Nüchternheit und mehr Risikobewusstsein, mehr valide Risikovorsorge für den Fall dass sich Annahmen doch nicht bestätigen, und einen geregelten Rahmen der was wert ist, was er imo nicht ist wenn er sich logistisch der Kontrollierbarkeit entzieht.

tl;dr:
Der Sekt steht auch bei mir im Kühlschrank, aber zum entkorken ist es IMO noch zu früh. Und das ist nur meine Meinung wo mir auch bewusst ist, dass auch Experten im Konsens zuversichtlicher sind, und das macht mir Hoffnung dass ich persönlich zu pessimistisch bin. Aber es bleibt das Bauchgefühl es nicht zu sein. Ich wünsch mir keine Panik, aber ich wünsche mir dass man nicht schon wieder zu früh zu viel möchte und hinterher wieder die Scherben kehren muss und sich so in Summe wieder nur ausbremst statt seriös voranzuschreiten.


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