Thema:
Der Kommentar ist ziemlich dämlich. flat
Autor: Pezking
Datum:24.05.21 14:52
Antwort auf:Re:Vierte Welle mit B.1.617? von Atlan

>Sollten wir mittlerweile nicht Inzidenzen von 2.000 haben? Mitte Mai in Berlin oder so, erinnert sich noch jemand? Erst ein paar Wochen her.
>
>Edit: Hier steht's zur Erinnerung [https://www.nzz.ch/meinung/corona-und-die-modellierer-ihre-prognosen-liegen-oft-daneben-ld.1624036]


Das ist ein ziemlich beschissener Kommentar.

Zuerst einmal sollte man verstehen und richtig einordnen, was Modellierer tun und welche Ziele ihre Arbeit haben. Ihre Ergebnisse stellen keine Prognosen dar, sondern mögliche Szenarien unter bestimmten hypothetischen Voraussetzungen. Die natürlich zur Entscheidungsfindung für weitere Maßnahmen beitragen sollen.

Im Nachhinein zu behaupten, dass die Modellierer "daneben lagen", weil irgendwas nicht so schlimm eingetreten ist wie bestimmte Modelle das in Aussicht gestellt haben, ist ziemlich...dumm. Leider.

Der Autor des NZZ-Kommentars erweckt zwar zunächst den Eindruck, dass er das eigentlich kapiert hat, wirft dann aber Journalisten vor, dass sie mit Modellierern Interviews führen - obwohl sie den Beruf des Interviewten nennen und dessen Aussagen in einen völlig korrekten Kontext setzen!

Das hier ist zum Beispiel der Artikel des Tagesspiegels, auf den sich Jonas Herrmann von der NZZ hier bezieht:

[https://www.tagesspiegel.de/wissen/schnelltests-im-kampf-gegen-dritte-welle-berliner-forscher-warnen-vor-2000er-inzidenz-im-mai/27029528.html]

Herrmann behauptet, dass dem Tagesspiegel zufolge im Mai "mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von etwa 2000 zu rechnen" sei.

Dabei werden in diesem Kontext auch klipp und klar die Rahmenbedingungen genannt, bei denen eine solche Entwicklung dem Modellierer denkbar erschien, als da zum Beispiel wären: Keine Steigerung des Impftempos, Schulen und Kitas stets geöffnet, etc.

Drosten ging schon in seinem Podcast vom 31. März auf derartige Kritik ein und bezog sich dabei u.a. direkt auf die Vorwürfe eines Philosophen gegen die Physikerin Viola Priesemann. Herrmann greift diese in seinem Kommentar ja auch an. Ich weiß nicht, ob er das früher schon getan hat und ob er der besagte Philosoph ist. Philosophie hat er jedenfalls studiert. Genauer konnte ich das jetzt auf die Schnelle leider nicht herausfinden.

Jedenfalls sortiert Drosten genau derart gelagerte Vorwürfe vernünftig ein und erachtet diese dabei als Logikfehler:

"Die infektiologische Modellierung, die Szenarien modelliert und das auch dazu sagt. Kein epidemiologischer Modellierer, auch nicht Viola und Michael, würde sagen: Das, was wir hier ausrechnen, wird in drei Monaten so eintreten. Die sagen: "Das kann so eintreten, das sind Szenarien und wir hoffen sehr, dass es nicht so eintritt, dass die Politik etwas dagegen tut." Nur es ist ja so: Wenn man diese Szenarien nicht hätte, wenn man nicht auch die greifbaren Argumente dafür hätte zu sagen: Das ist mehr als nur irgendwas aus dem Bauch heraus Dahergesagtes, sondern dahinter steht ein parametrisiertes Modell, dann könnte man ja auch gar keine Debatte um die Dinge führen, die da kommen. Nur weil sie im Rückblick nicht so gekommen sind, heißt das nicht, dass die epidemiologische Modellierung keine Wissenschaft wäre oder kein wissenschaftlicher Ansatz. Oder dass die Leute, die das betreiben, keine guten Wissenschaftler sind. Das ist schon so wieder ein typisches Beispiel."

[https://www.ndr.de/nachrichten/info/82-Coronavirus-Update-Die-Lage-ist-ernst,podcastcoronavirus300.html]

Und dann wird die Argumentation von Herrmann ja erst richtig wild: Da verwendet man seitens der Regierung, der Wissenschaft (zu der ja Modellierer sehr wohl zählen...) und der Medien diese "selten zutreffenden" Modellrechnungen einfach trotzdem, nur um Angst zu verbreiten und ein autoritäres Menschenbild zu verfolgen und überhaupt...ohgottohgott. NZZ im Jahre 2021 halt. Zumindest deren Online-Version. Ein Jammer. Aber das weirde Berliner Büro der NZZ hat ja inzwischen wenigstens einen neuen Geschäftsführer, der ausdrücklich "nicht nur das Wutbürgertum" bedienen will (allein das Zitat spricht Bände). Ich bin gespannt.


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