Thema:
Re:Ja diese Formulierungen gehen gar nicht flat
Autor: token
Datum:18.05.21 11:31
Antwort auf:Re:Ja diese Formulierungen gehen gar nicht von suicuique

>Erst mal vielen Dank für die ausführliche Antwort. Auch wenn sie mir zuweilen etwas zu emotional wird. Du musst nicht mein komplettes Rechtsverständnis in Frage stellen allein aufgrund der Tatsache dass ich manches anders einordne als Du.
>Das ist mit Kanonen auf Spatzen geschossen :)
>

Das war keine Belehrung sondern lediglich der Versuch transparent zu machen wie sich mein persönlicher Standpunkt begründet.
Wir kommunizieren hier ja auch nicht per pm sondern auf einem Marktplatz der Meinungen wo jeder mitlesen und jeder eingrätschen kann.
Es ging also nicht darum "dir was zu erklären" sondern eher darum die eigene Perspektive ausreichend zu erläutern.

>Anyway, warum ich nach der Branche deines Bekannten gefragt habe: Du hast in deinem Beitrag auf den ich geantwortet habe als ein zentrales Argument den Punkt gebracht, dass Leuten die wirtschaftlich vor dem Aus stehen mit einer möglichst kurzfristigen Lockerung/Aufhebung der Beschränkung geholfen werden kann und sich deshalb die Frage nicht stellt ob man so verfahren sollte.

So war das nicht gemeint.
Der maßgebliche Reibungspunkt ist doch ein Störgefühl einer unangemessenen Ungleichbehandlung. Ich sage lediglich, man sollte nicht mit der Fahne "Solidargemeinschaft" wedeln, wenn man unter dieser lediglich die eigene Lebenswirklichkeit begreift und andere Lebenswirklichkeiten ausklammert. Solidarität heißt nämlich denen zu helfen die Hilfe dringend nötig haben, und nicht, sich gegen einen Fortschritt zu stellen wenn man nicht ad-hoc an diesem partizipieren kann.

>Ich hab etliche Bekannte im Gastronomiegewerbe (unter anderem einen Hüttenwirt). Von denen weiss ich dass es sich für diese wirtschaftlich nicht rentiert zu öffnen solange es sich nur um eine rudimentäre Teilöffnung handelt. Das wird bei deinem Bekannten ja auch nicht komplett anders sein. Es ist also nicht so dass man die wirtschaftliche Not dieser Branchen mit einer Teilöffnung komplett beseitigen würde. Man könnte sie sicherlich lindern.

Und hier zeigt sich warum weitergehende Erläuterungen was man eigentlich meint, manchmal ganz sinnvoll sind.
Denn zu diesem Punkt hatte ich ff. Satz geschrieben:
Und zu diesem Normalzustand zurück zu finden ist ein sukzessiver Prozess, da kann keiner für alle einen Schalter umlegen.

Heißt, das ist mir bewusst, aber da wir nun mal nicht einer binären Welt wo es nur richtig und falsch, gut und schlecht oder nur volle Pulle und Stillstand gibt, gibt es nun mal Probleme die man etwa mit einem Phasenmodell und mehreren Schritten löst.

Idealdiskurse kann man im Philosophieunterricht führen, Realpolitik in einem historischen Ausnahmezustand ist kein Arbeitsfeld für kantsche Goldwaagen.
Wir stehen nicht auf der grünen Wiese, wir haben aus der Not heraus Grundrechte abgebaut und auch schon bei aktuellen Regulierungen massive Ungleichgewichte in der Bevölkerung bei den Belastungsproben produziert.

Diesen Umstand muss man eben bei argumentativen Abwägungen annehmen, und wenn man eben diese nicht ausklammert, ist ein Großteil der Argumente gegen die Wahrnehmung möglicher Maßnahmen zur Rückkehr in die Normalität inhaltlich hinfällig, weil schon der Ist-Zustand ein noch viel größeres Gefälle gegen solche philosophischen Idealvorstellungen produziert als das vermeintliche "Drohszenario" einer schrittweisen Öffnung für Bevölkerungsgruppen die geimpft sind.

Meine Solidarität gilt da auch nicht der Non-Prio-Gruppe oder Esoterikern die kein Bock auf Nadel haben, sondern Menschen die sich gerne impfen lassen würden, aber das aus gesundheitlichen oder regulatorischen Gründen nicht dürfen und entsprechend zwingend auf Herdenschutz angewiesen sind.

Und natürlich gibt es Grenzen wo auch ich denken würde, puh, harter Tobak, nein, ich glaube damit bin ich nicht einverstanden. Etwa die Zwangsimpfung.
Das wäre schon extrem diskutabel. Aber eine schrittweise Öffnung dort wo sie möglich ist auch wahrzunehmen und die Kröte zu schlucken wenn der Magen eh schon voller Kröten ist, ist für mich kein Skandal sondern Vernunft im Angesicht eines Gesamtbilds dem man mit Idealen nicht mehr beikommt sondern nur noch mit Kompromissen.

>Vor allem halte ich aber das Argument, man wolle die wirtschaftliche Not von betroffenen Branchen lindern, für vorgeschoben. In erster Linie dürfte es den meisten um die Rückforderung ihrer Rechte gehen. Ein valides Anliegen. Aber keines das ein Solidaritätssiegel rechtfertigt.
>

Da ist nix vorgeschoben, es ist ein (1, uno, one) Anschaubeispiel wie realitätsfern die Argumentation der Gegenseite ist weil es keine fundierte Prämisse für solche Gedankengänge gibt. Wenn das Haus brennt und schon alle Feuermelder geschmolzen sind, führt man keine Grundsatzdiskussion über das Design von Fluchtwegen. Das macht man hinterher wenn man die Wunden leckt um zukünfitg eine Prophylaxe gegen solche Notwendigkeiten wie den temporären Rückbau von Grundrechten im Katastrophenfall zu haben.

>Weiter schreiben Du (und Spyro weiter oben) dass es sich um keine Sonderrechte handelt sondern allein darum dass man sich der Grundrechte besinnt die einem eh zustehen. Das ist mir in dieser Argumentation zu simpel gedacht.

Wir können uns darauf einigen dass wir beiderseits bestimmte Argumentationen als "zu simpel gedacht" begreifen ;P

>Die Grundrechte sind eine ganze Latte von Rechten die im Grundgesetz garantiert sind und die ständig gegeneinander abgewogen werden müssen. Das ist doch grad die Krux in unserem Rechtssystem. Die Rechte stehen in Konkurrenz und oftmals in einem Konflikt zueinander. Dein Recht auf Meinungsfreiheit und das Persönlichkeitsrecht eines anderen, mein Recht auf Versammlungsfreiheit und das Recht eines anderen auf körperliche Unversehrtheit das unter Umständen meinem Recht entgegensteht, das Recht auf das Postgeheimnis und Unverletzlichkeit der Wohnung konkurriert zuweilen mit dem Recht eines Anderen auf Eigentum. Etc pp. Ich erzähl Dir da sicherlich nix neues.
>

Nein.

>Allein ein Grundrecht einzufordern "weil ja Grundrecht" wird dieser ganzen Problematik zu keinem Zeitpunkt gerecht.
>

Ich hoffe das ist wiederum deinerseits eine "Erläuterung der eigenen Perspektive" und nicht das Leseverständnis dessen was ich dazu geschrieben hab.

>Unter gewissen Umständen kann also ein Grundrecht zu einem Sonderrecht werden wenn es nicht allen pauschal zugestanden werden kann weil dann andere Rechte verletzt werden. Das Grundrecht ist ja nicht nur ein solches weil es Dir von Grunde auf zusteht sondern weil es ohne Einschränkung zunächst mal für alle gilt. Das ist in dem konkreten Fall, der geforderten Aufhebung von Beschränkungen für gewisse Leute die bestimmte Kriterien erfüllen offensichtlich nicht mehr der Fall. Darum finde ich diese Sonderecht-vs-Grundrechtsdiskussion weder sachgerecht noch zielführend, weil sie den Kern des Problems verkennt.
>

Wie gesagt sprach ich von einem fehlgeleiteten Wording das den Ist-Zustand verkennt, weil es Ideale einfordert die temporär nicht mehr existieren. Ich kann in einem Ausnahmezustand nicht argumentieren wie auf der grünen Wiese.

Oder anders ein Anschaubeispiel aus der Arbeitswelt.
Wenn ich mit einem Projekt beauftragt werde das ein Problem lösen muss, dann mache ich in der Konzeptphase Workshops. Und in diese Workshops hole ich mir die Macher und screene vorher ihre Lösungsvorschläge. Und ich hole mir dann auch, vollkommen bewusst, die "Schlaumeier" als notorische Bedenkenträger in die Runde.

Der Typ "Schlaumeier" zeichnet sich für mich dadurch aus, dass er zwar valide Kritik äußert, hierbei aber niemals konstruktiv denkt. Die Natur seiner Kritik zeichnet sich bspw. oftmals dadurch aus, dass sie widersprüchlich ist. Es gibt oftmals nur zwei Optionen im Lösungsmodell, Option 1 wird vom Schlaumeier als zu pragmatisch/dirty zerfetzt, Option 2 wird im direkten Anschluss als zu aufwendig und illusorisch zerfetzt.

Der Schlaumeier ist also Mensch gewordener Advocatus Diaboli, versiert im zersetzen von Lösungsmodellen, hierbei gerne mit einem Tunnelblick der die Konsequenz seiner Kritik (es gibt eigentlich keine gute Lösung) ausblendet, und sich auch nicht um den Ist-Zustand und mögliche Gestaltungsräume schert. Entsprechend haben diese Typen den höchsten Redeanteil ohne jemals selbst einen Lösungsvorschlag ins Feld zu tragen.

Schrecklich, aber in einer Konzeptphase Gold wert, weil ihre Nervensägerei ein perfekter Stresstest für Konzepte ist. Und dann sage ich, Karten liegen auf dem Tisch, Startschuss ist in einer Woche, jetzt treffen wir Entscheidungen.
Das hat zwei Effekte.
Der eine, man fängt an Entscheidungen zu treffen.
Der andere, absolute Funkstille von den Schlaumeiern.
Entscheidungen treffen, solche die auch protokolliert werden, das ist nicht ihre Welt.

Und entsprechend schaue ich auch dass das Team in der Umsetzungsphase möglichst keinen Schlaumeier an Bord hat, denn da wo sie in der Konzeptphase für Erkenntnisgewinne sorgen sind sie bei der Umsetzung unkonstuktive Bremsblöcke deren Blödsinn und Sabotagen und Mosereien und Labereien einen hohen Moderationsaufwand generieren, ohne dass man von diesen Menschen jemals einen konstruktiven Beitrag erhält der jemals was zur Problemlösung leistet.


Warum dieser Ausflug?
Weil für mich die Parallelen in diesem Grundsatzdiskurs erschlagend sind.
Grundrechte werden als Sonderrechte tituliert. Also Tunnelblick und Verkennung des Ist-Zustands und wo dieser überhaupt herkommt und warum es überhaupt so gekommen ist.
Argumentation der Ungleichbehandlung. Erneut, Tunnelblick und Verkennung des Ist-Zustands wo es ein großes Gefälle bei den Belastungen gibt und sich der Begriff "Fairness" eh schon sein Sabbatical genommen hat und Realpolitik unfreiwilligerweise durchgehend als Getriebener agiert.

Kurzum, unkonstruktiver Unfug und wenn so ein vermeintlich idealistisch korrekter Standpunkt selbst beim Vorsitzenden des deutschen Ethikrats keinen Anklang mehr findet, dann brauch ich als Schreibtischhengst eigentlich auch nichts weiter zu zu schreiben, dann darf man diesem Herrn dessen Job es ist sich solche Gedanken zu machen erklären wie sehr er in seiner Funktion versagt hat, oder vielleicht auch mal die eigene Perspektive in Frage stellen, oder noch besser, ein Lösungsmodell anbieten was faktisch umsetzbar ist und diese Ideale wahrt.

Da kütt in der Regel aber nix, und wenn doch, ist es löchriger als ein Schweizer Käse sobald man anfängt so eine Lösung auch zu Ende zu denken.

>Wie schon eingangs erwähnt sehe ich die Notwendigkeit zu diskutieren wann man unter welchen Voraussetzungen die Einschränkungen aufheben will. Was ich jedoch nicht sehe, ist das Selbstverständnis, dass sich diese eigentliche Frage gar nicht stellt.
>

Die Diskussion gab es schon vor Monaten, und imo war sie abgeschlossen. Aber klar, wenn ein Lösungsmodell aus der grauen Theorie rauskommt und in die Umsetzung geht, kommt noch mal eine andere Schärfe rein. Aber selten neue Erkenntnisse. Was ist die bessere Alternative? Und inwiefern ist es sinnhaft ein Ideal wahren zu wollen wenn es eh keinen Bestand mehr hat, und es eigentlich darum geht dieses Ideal wieder zu einem festen Bestandteil der Lebenswirklichkeit ALLER Menschen zu regenerieren und man ein Vorgehensmodell braucht was das leisten kann?

Aktuell haben wir so ein Lösungsmodell.
Dort, wo Infektionen ein geringes Risiko darstellen kann man Einschränkungen vermeiden. Das wird auch so gehandhabt, denn Einschränkungen sind kein Selbstzweck sondern erfüllen eine Funktion.
Mit einer geimpften Bevölkerungsgruppe hat man nun neue Gestaltungsräume wie man solche Zonen zusätzlich zu den bestehenden logistisch schaffen kann.

Wenn man sich also gezielt dagegen entscheiden möchte, dann bitte auch ausführen was die eigene Idee wäre.
Denn darum sollte es gehen, einen Wettstreit der Ideen die uns aus der Scheiße helfen. Und da soll die beste Idee die alle Interessen im bestmöglichen Kompromiss wahrt und dennoch das Zielbild erreicht gewinnen.
Aber ein Lösungsmodell gegen temporär eh nicht mehr zutreffende Moralvorstellungen zu verproben und zu meinen, jo, das ist doch ein Punkt, ist für mich destruktiver Blödsinn.


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