Thema:
Re:Welt-Kommentar zu den zunehmend schrillen Warnungen flat
Autor: _bla_
Datum:25.09.20 13:56
Antwort auf:Re:Welt-Kommentar zu den zunehmend schrillen Warnungen von Matze

>>Und was wäre dein Vorschlag?
>
>Was der Kommentator auch fordert: Mehr evidenzbasierte Entscheidungen.


Das Problem ist doch aber gerade, das wir eben mit sehr begrenzter Kenntnislage klarkommen müssen und deshalb Entscheidungen getroffen werden müssen, bevor die Evidenz vorliegt. Und teilweise ist es sogar so, das die Evidenz sich überhaupt nur bekommen lässt, wenn eben etwas ausprobiert wird, von dem noch nicht klar ist, wie nützlich es ist. Mehr evidenzbasierte Entscheidungen klingt immer toll, aber bedeutet in diesem Zusammenhang doch ganz oft einfach nur: nichts machen. Nicht weil das richtig wäre, aber weil einfach die Informationen fehlen, um eine evidenzbasierte Entscheidung zu treffen.

>>Ich sehe den Kern des Problems darin, das du die exponentiellen Ausbreitungseigenschaften eben sehr kleine Verhaltensänderungen zu völlig anderen Ergebnisse führen können, wenn sich das Infektionsgeschehen rund um einen R von 1 bewegt.
>
>Ein Anfang wäre z.B., wenn mal öffentlich geklärt würde, wo wir wirklich stehen im Vergleich zum Frühjahr. Angesichts der zigfach höheren Testzahlen ist klar, dass man die Zahl der festgestellten Neuinfektionen nicht einfach 1:1 vergleichen kann.


Klar, aber das ist alles andere als einfach. Denn du müsstest dafür die Dunkelziffern sowohl von damals als auch von heute kennen. Dafür brauchst du eigentlich eine große repräsentative Stichprobe, die du aber nicht bekommst, weil du niemanden zur Teilnahme an einer Studie verpflichten kannst. Freiwillige Teilnehmer an einer solchen Studie haben aber ein wesentlich anderes Risikoverhalten als die Gesamtbevölkerung. Antikörpertests haben sowohl das Problem, das die Antikörperspiegel im Laufe der Zeit abnehmen, als auch das Problem der falschen positiven Ergebnisse, weshalb sie hauptsächlich in Hotspots aussagekräftige Ergebnisse liefern. Wenn du in einer Population 1-2% positive Antikörpertests  bekommst, dann ist da ein sehr großer Teil falsch positiver Tests dabei.


> Ich habe auch noch keinen Experten gehört, der das bestritten hätte. Es will aber auch niemand so richtig raus damit, was Phase ist. Es gibt doch mittlerweile genug Daten über die Infektionszahlen im Frühjahr und die Dunkelziffer, dass sich ein Zusammenhang mit den aktuellen Zahlen herstellen lassen müsste.

So toll sind die Daten alle nicht. Da ist extrem viel Unsicherheit drin. Aber es ist vor allem auch ziemlich unwichtig und lenkt vom eigentlichen Problem ab: Dem starken Anstieg der Infektionszahlen in den letzten Wochen. Das ist genug Evidenz um eine Handlungsnotwendigkeit zu begründen und in den letzten Wochen gab es eben keine große Veränderung bei der Anzahl der Tests und der Anteil der positiven Tests ist gestiegen. Die Evidenz, das es in den letzten Wochen zu deutlich mehr Infektionen gekommen ist, die ist ziemlich solide. Man benötigt keinen zusätzlichen Vergleich mit den tatsächlichen Zahlen vom März, denn wenn der Anstieg sich so fortsetzen würde, dann würde es eben demnächst wieder kritisch werden. Ob es nun noch bis Ende Oktober, November oder Dezember dauern würde, bis wir wieder Verhältnisse wie im März haben das ist zwar auch ganz interessant, aber für die Frage, ob man jetzt Einschränkungen wieder einführen sollte ziemlich egal.



>Ebenso erzählt Söder gestern, das Virus sei ansteckender geworden, legt dazu aber keinerlei Beweise vor. Wer sagt das? Und ist es vielleicht auch weniger gefährlich geworden?

Es gibt wohl gerade ein entsprechendes Paper, hab's selbst noch nicht gelesen.

> Auch hier sagen praktisch alle Experten, dass die geringe Anzahl der Todesfälle oder auch nur der Krankenhauseinweisungen zum Teil am niedrigeren Alter der Patienten liegt aber dass es das nur zum Teil erklärt. Aber was erklärt den Rest? Kann mir doch keiner erzählen, dass es darüber nicht zumindest Theorien gibt

Zuerst einmal solltest du nicht vergessen, das es eine Weile dauert an Covid-19 zu sterben. Das hatten wir auch im März, dann hatten wir auch viele Infektionen, aber noch kaum Todesfälle und die sind dann halt im Laufe der Zeit dazu gekommen. Die Leute, die daran sterben, liegen ja meistens erstmal 3 Wochen im künstlichen Koma an der Beatmung und vorher ging es ihnen in den ersten zwei Krankheitswochen sogar noch recht gut.
Und natürlich gibt es auch noch ein paar andere Faktoren: Die Krankenhäuser können es inzwischen etwas besser behandeln, bspw. mit Dexamethason und Remdesivir und besserer Nutzung von Sauerstoff und Beatmungsgeräten. Und dann gibt es eben auch noch ein paar Spekulationen: Ein besserer Vitamin D Spiegel wegen des Sommers könnte zu weniger schweren Verläufen führen und die Maßnahmen könnten dazu führen, das sich die meisten Infizierten geringere Virusdosen abbekommen haben als im Frühjahr und das auch zu leichteren Verläufen führt.


>>Und Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen und Parks: Das mag bei vorsichtigem Verhalten unnötig sein, aber ich denke darauf zielt es gar nicht ab. Es geht wohl eher darum, Treffen und Feiern ungemütlich zu machen, so dass die Leute darauf verzichten und eine Maskenpflicht ist eben leichter zu kontrollieren und in eine Verordnung zu fassen, als: Bitte haltet euch bei sozialen Treffen zurück und bildet keine Gruppen.
>
>Solcher Taschenspielertricks sollte sich eine Demokratie nicht bedienen. Zumal es bei den wirklich gefährlichen Feiern in geschlossenen Räumen auch gar nicht greift.


Was ist die Alternative? Du willst ja nicht alles verbieten. Eigentlich müsste jeder ein Risikobudget bekommen und dürfte dann halt eine begrenzte Anzahl an Handlungen mit erhöhtem Risiko durchführen. Aber das ist wohl kaum praktikabel. Das Virus ist nicht so ansteckend, das wir einen strengen Lockdown brauchen, aber offenbar werden momentan zu viele Risiken eingegangen. Wir müssen also das Ansteckungsrisiko wieder durch entsprechende Verhaltensanpassungen senken. Zudem: Das mit der Maskenpflicht auf öffentlichen Plätzen ist ein gutes Beispiel warum Föderalismus sinnvoll sein kann. Ich halte auch nicht besonders viel von dieser Maßnahme, aber sie ist auch nicht so abwegig, das es absurd ist, sie auszuprobieren. Vielleicht stellt sich ja heraus, das die Übertragungswahrscheinlich draußen unterschätzt wurde und die Maßnahme tatsächlich einiges bringt. Da liefern dann doch die Bayern möglicherweise gerade die Evidenz, die du oben forderst, die aber vielleicht nie entsteht, wenn es niemand ausprobiert.


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