Thema:
Re:oh mann, Spiegel... flat
Autor: token
Datum:31.05.20 13:06
Antwort auf:Re:oh mann, Spiegel... von Pjotr

Danke für die Ausführung, ich hatte schon beim Abschicken das Gefühl dass "Rationalität vs. Emotion" irgendwie nicht wirklich die eigentliche Problematik umschreibt sondern vorbei schießt, aber irgendwie hatte das Zitat "wir gehen dazu über emotional statt rational zu handeln" die Gedanken dazu verhaftet.

Wobei auch der Artikel den du verlinkst schon umschreibt durch wie viele Bereiche sich da eine Grundsatzproblematik zieht mit den zahlreichen "wars" an so vielen Fronten.

Wenn ich versuche diesen ganzen Komplex an hochkomplexen Problematiken in unglaublich vielen Varianten zu abstrahieren und auf ein Kernproblem runterzudampfen wäre das Wort das ich dafür wählen würde "Systemfehler".

Nach meinem Verständnis läuft es im Grunde, wenn man sich fragt, was geht hier eigentlich schief, oftmals auf die gezielte Instrumentalisierung von Systemfehlern hinaus um zu gewinnen.
Wir haben ja einerseits ein extrensisches System in dem wir agieren. Nennen wir es mal Universum. Das sind nicht unsere Spielregeln. Diesen Gesetzmäßigkeiten müssen wir uns fügen.

Aber innerhalb dieses universellen Systems ziehen wir ja unzählige Subsysteme hoch die auch noch irgendwie miteinander verzahnt sind. Diese künstlichen Systeme haben wir selbst definiert. Und ab einem gewissen Komplexitätslevel eines solchen künstlichen Systems ist es nicht vermeidbar, dass so ein System Fehler hat. Das ist nicht mehr zu vermeiden. Das sind quasi Bugs, und die kann man wenn man sie erkennt iterativ ausmerzen, Lücken schließen etc. Das System stabiler machen. Man kann sie jedoch nicht vollständig ausmerzen, oft genug ist die Maßnahme die eigentlich einen Fehler beheben soll der Auslöser für einen anderen Fehler in diesem System.

Ich weiß noch wie ich als Berufsanfänger bspw. in der Finanzbranche landete und zunehmend baff war wie grundsätzlich falsch mein intuitives Verständnis davon war nach welchen Methoden dort gearbeitet wird. Da denkst du, das ist ohne Ende Mathematik. Und dann ist das eher Mittel zum Zweck, oftmals nicht so angewandt wie man denken würde, etwa statt Modelle zu nutzen um Risiken zu erkennen, so einzusetzen um Risiken zu verschleiern und intuitive Fehlverständnisse zu generieren. Dann ist der heiße Scheiß plötzlich nicht Mathe sondern Psychologie.
Don't beat the players, beat the game.

Aber das führt zu weit, ein gutes Anschaubeispiel in einem Videospielforum ist das Videospiel und damit verbundene Wettbewerbe.
Ein Videospiel ist ja genau das, ein künstliches System das bestimmte Spielregeln mitbringt die auf eine bestimmte Form von Regelwerk hinauslaufen, indem sich die Spieler bewegen. Darin sind Spieler unterschiedlich gut. Die Normalos sind froh wenn sie es irgendwie über die Ziellinie schaffen, und dann sehen sie sich Videos von Echsenmenschen an und staunen was die auf dem Kasten haben. Das ist das Spiel wie es von den Entwicklern angedacht war.

Diese Systeme sind aber ausreichend komplex, so dass auch immer Fehler im System sind. Immer.
Nehmen wir nun einen bestimmten Wettbewerb. Den Speedrun. Wenn ich als Normalo einen Speedrun mache, werde ich immer gegen die Echsenmenschen verlieren. Immer. Egal wie hart ich trainiere, das gibt mein Körper nicht her, die Reflexe, die Gedächtnisleistung, die Präzision, ich kann egal wie hart ich daran arbeite nicht gegen den Echsenmensch gewinnen.

ABER, egal wie gut ein Echsenmensch ist, er wird gegen mich keine Chance haben wenn ich den Glitch finde.
Das ist meine Chance. Ich kann das System brechen und mir so genau den Vorteil erarbeiten der mir die Chance gibt der Beste zu sein. Und das zu tun ist nicht nur die einzige Chance die ich zum Sieg habe, sie birgt auch absurde Potenziale. Ich muss also schnell sein, ich muss direkt die Fehler suchen, diese Ausnutzen und dann kann ich Gewinner sein. Nur, wenn ich gewinne erweckt das Aufmerksamkeit. Jetzt sehen auch die Echsenmenschen diese Potenziale und instrumentalisieren diese für sich.

Was daraus erwächst ist ein Metagame. Es folgt den Grundzügen des Spielsystems so weit wie es ihnen folgen muss. Und wenn es bei Videogames noch einen Ehrenkodex gibt und NoGlitch-Runs, die besten Zeiten werden IMMER dann erzielt wenn die Glitches genutzt werden. Immer. Und in der echten Welt geht es nicht um Ehre, es geht um Ergebnisse, es geht darum zu gewinnen.
Und der Clusterfuck dieses Metagames spitzt sich immer weiter zu, durch alle denkbaren Bereiche. Und es ist im strengen Sinne auch kein Betrug, nö, es ist "clever".
Und wenn wir uns die Gewinner von Speedruns anschauen, dann sehen wir Videos in denen nicht mehr das Spiel gespielt wird, sondern die Spieler abseits der Levelarchitektur rumfliegen. Was sicher auch eine eigene Faszination mitbringt, nur mit dem eigentlichen Spiel hat das nur noch am Rande zu tun.

Das sieht man in seiner Grundsatzproblematik eigentlich überall in unterschiedlichen Varianten. Die Arbeit von Geheimdiensten. Sie haben sich früher ausspioniert, etwa abgehorcht. Dann merkt der Gegner das und verschlüsselt. Der Schlüssel wird geknackt. Okay, wenn ich weiß dass die zuhören dann nutze ich nun das aus und spiele dem Gegner gezielt falsche Infos zu. Okay, dann bringe ich meinen Agenten hinter die feindlichen Linien. Okay, dann bringe ich meinen Agenten zu deinen Agenten damit du ihn dann hinter die feindlichen Linien bringst, aber eigentlich arbeitet der für mich. Okay, dann bringe ich meinen Agenten zu deinen Agenten, damit du ihn dann wieder zu meinen Agenten bringst, und ich ihn dann wieder zu deinen Agenten bringe, und jetzt arbeitet er wieder für mich. Ein komplett irrer Clusterfuck, aber was soll man auch machen, das Spiel muss halt gespielt werden, auch wenn man es irgendwann nicht mehr verstehen kann, the show must go on.

Wie kommt man aus solchen Dynamiken in allen Lebensbereichen gesamtheitlich wieder raus?
Wenn komplexe Systeme zu viele Winkelzüge anbieten, die man bei ausreichender Komplexität gar nicht kitten kann, dann braucht man vielleicht einfachere Systeme die stabiler und sicherer sind. Aber kann man damit alles abbilden was man abbilden müsste? Oder führt das nur zu einer Vielzahl von Modulen die dann im Zusammenspiel wieder zu einem komplexen System mit Winkelzügen verschmelzen?
Und vor allem, was ist mit den "Gewinnern"? Wer gewinnt vermehrt seine Macht, Macht heißt Einfluss, und wer von diesen Gewinnern soll bitte ein Interesse daran haben dass man ihm seine Spielzeuge wegnimmt?
Wie Gewinner diese Macht einsetzen ist doch klar, nämlich so, dass sie sich zumindest erhält und noch eher so, dass sie wächst. Nehmen wir etwa Steuersysteme. Es ist ziemlich sicher dass eine dramatische Vereinfachung von Steuergesetzen nicht nur Missbrauch in den Griff kriegen könnte, sondern im Zuge dessen auch noch die Einnahmen erhöhen würde, Verwaltungskosten reduzieren würde, und den Steuersatz für die Allgemeinheit reduzieren würde. Überall fast nur Gewinner. Fast alle gewinnen. Nur die aktuellen Gewinner verlieren. Also wird es nicht gemacht. Als ein Beispiel.

Ist es ein Problem ohne Lösung? Muss alles erstmal "richtig" crashen bevor man es wieder neu aufbauen kann, weil man aus dieser Nummer nicht wieder rauskommt?
Keine Ahnung. Aber das ist im Grunde das was man im Kontext von Softwaresystemen in der Regel macht, wenn es nur noch rumspackt. Reboot.


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