Thema:
Re:oh mann, Spiegel... flat
Autor: Pjotr (deaktiviert)
Datum:30.05.20 20:05
Antwort auf:Re:oh mann, Spiegel... von token

Was hier stattfindet hat nichts mit Rationalität vs. Emotionalität zu tun. Stattdessen handelt es sich hier um eine krude, zersplitterte Version der sogenannten postmodernen Science Wars, d.h. dem Konflikt zwischen Wissenschaft als objektiver Institution oder soziologischem Konstrukt.

Warum zersplittert? Weil niemand für Fundamentalpositionen bezüglich Wissenschaft und Wahrheit (z.B. „Es gibt keine objektive Realität die sich empirisch erfassen lässt“ oder „Jede „Wahrheit“ ist immer 100% diskursiv konstruiert“) argumentiert und weil niemand wirklich konsequente Positionen zur Wissenschaft an und für sich einnimmt (und allein deshalb ist der Begriff Glaubenskrieg nicht passend). Es gibt beinahe niemanden der komplett „wissenschaftsgläubig“ oder „wissenschaftsskeptisch“ ist – nahezu jeder ist hingegen selektiv gläubig oder skeptisch. Auch die Corona-Skeptiker werden den meisten wissenschaftlichen Erkenntnissen keinen allzu großen Zweifel entgegen bringen. Wie sehr man wissenschaftlichen Erkenntnissen traut hat immer damit zu tun, wie sehr sie in die jeweilige Weltanschauung passen. Wenn mir eine wissenschaftliche Erkenntnis passt neige ich dazu sie als objektive Realität zu sehen, wenn sie mir nicht passt neige ich dazu sie als Konstrukt des soziologischen Systems „Wissenschaft“ wegzuargumentieren („Wissenschaftler X ist voreingenommen“, „Wissenschaftler X ist ein weißer Mann“, „Wissenschaftler X geht es nur um Prestige und nicht um objektive Wahrheit“, „Wissenschaftler X steht wahrscheinlich auf der Gehaltsliste von Y“, „Wissenschaftler X ist Teil einer Verschwörung“). Das gilt sowohl für Verschwörungstheoretiker als auch für normale Menschen – die Verschwörungstheoretiker neigen nur zu extremeren Positionen.

Kleines Beispiel: Es gibt mehr als genug Personen im Umfeld der Grünen Parteien, die was den Klimawandel angeht absolut wissenschaftsgläubig sind - aber auf der anderen Seite hinter jeder Studie, die sich irgendwie positiv zu GMOs äußert ein Komplott von Monsanto vermuten und Scharlatanen wie Séralini den figurativen Penis lutschen. Und diese Positionen basieren in nahezu allen Fällen nicht auf irgendwelcher informierter Abwägung der Datenlage.

Das große Problem ist, dass es keine eindeutige Lösung gibt. Es gibt keine richtige Sichtweise, die immer passt. Denn eine soziologische Sichtweise auf die Wissenschaft hat durchaus Berechtigung. Wissenschaftler sind voreingenommen, Wissenschaftler haben oftmals „conflict of interests“, Wissenschaftler waren an Maßnahmen beteiligt in denen der Staat seine Macht missbraucht hat. Das Problem ist jedoch, dass diese Sichtweise über das gesamte politische Spektrum sehr selektiv eingesetzt wird. Letztendlich argumentiert der Republikaner der den Klimawandel leugnet eben nicht fundamental anders als der GMO-skeptische Ökoaktivist.

Bruno Latour – der in den 80er Jahren ein großer Vertreter der konstruktivistischen Wissenschaftsoziologie war – hat in seinem Artikel „Why has critique run out of steam?“ [http://winteranthology.com/?vol=5&author=latour&title=critique] zu diesem Thema geschrieben.


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