Thema:
Wasserstand aus dem LEH flat
Autor: Phreak
Datum:17.05.20 14:17
Antwort auf:War schon wieder mal einkaufen Thread #2 von Rocco

Hello, nach sehr ereignisreichen Wochen wollte ich nochmal einen Wasserstand aus dem LEH geben, interessiert ja vielleicht ein paar Leute hier:

Nach den teilweise hemdsärmeligen Bemühungen, schnell die Vorgaben für Social Distancing in den Geschäften umzusetzen, wurden diese in den letzten Wochen auf etwas bessere Fundamente gestellt. Kassentisch-Provisorien wurden umgebaut, die Bestandshersteller können nun wieder liefern und koffern die Kassenplätze mit PET Plastik und anderem Zeugs ein, das nicht sofort zersplittert, wenn man dagegen fährt mit einem Einkaufswagen. Das gleiche für Bedientheken und Take-Away (Bäckereien, Marktgastro).

Geile Anekdote dazu: In Berlin waren ein großer Teil der Kassen der Kaiser's Märkte mit Plexiglas-Aufbauten eingekoffert. Grund hierfür war der Schutz vor Windzug. Spätestens mit der Übernahme von Kaisers-Tengelmann wurden diese aber abgebaut und verscherbelt. Irgendein Typ hat all diese Aufbauten günstig gekauft und eingelagert. So ein geiler Cliché-Ossi, der nie etwas wegwirft. Da ein Teil der Kassentische behalten wurde und die Aufbauten noch kompatibel waren, hat der Kerl nun das Geschäft seines Lebens gemacht, indem er die Dinger wieder an die neuen Besitzer der Kaiser's Märkte zurückvertickt hat :)

Die Supply-Chain Herausforderungen sind eigentlich alle im Griff, auf allen Stufen der Versorgung kommt man von der Reaktion wieder in die Aktion. Das merkt man nicht nur beim alltäglichen Einkauf, sondern auch etwas in der Themensetzung und beim Gespräch mit Kollegen. Folgende Punkte sind derzeit oben auf der Agenda:

1) Schutz der Mitarbeiter vor dem Virus
2) Wiederherstellung von sowas wie einem "Einkaufserlebnis" im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben
3) Kostengünstiger Betrieb unter neuen Regeln und Vorbereitung auf mittel-/langfristige Veränderungen durch Corona

Zu 1) werden gerade Leute geschult und neu eingestellt (A/B Schichten), Masken organisiert, Prozesse verändert. Übergabeprozesse (Wareneingang, HACCP) wurden auf Low-Touch umgekrempelt, was dem Thema "Digitaler Supermarkt" einen riesen Schub verpasst hat. HACCP Rundgänge werden nun am Tablet eingetippert, Vorbestellungen für die Bedientheke erfolgen über eine App. Kunden scannen ihre Einkäufe selber, die haus-eigene Mobile Shopping App wird gerade mit volldampf ausgerollt und wird super angenommen. Man testet IoT Konzepte bei denen der Lieferant per digitalem Schlüssel den Wareneingang öffnet zu jeder Tages- und Nachtzeit und die Frachtpapiere nicht mehr per Stift unterschrieben werden müssen. Man werkelt mit Lieferanten an Lösungen, ständig benutzte Oberflächen (Kassenbänder, Einkaufswagen-Griffe) nicht mit flüchtigen Chemikalien, sondern vielleicht mit UV-C zu desinfizieren. Alles sehr komplex in Sachen Arbeitsschutz und Retrofitting, aber machbar.

Zu 2) gibt es den einfachen Effekt, dass die Frequenz der Einkäufe stark abgenommen hat, der durchschnittliche Warenkorb hingegen höher ist. Leute kaufen weniger oft, dafür mehr ein. Logisch soweit. Das hat aber auch den Effekt, dass bei einer geringeren Frequenz auch die Impulskäufe zurückgehen. Leute kaufen weniger Produkte spontan, planen ihre Einkäufe wesentlich besser und versuchen in jedem Fall zu vermeiden, nochmal spontan in den Supermarkt zu müssen für ein Bündel Dill. Aus dem gemütlichen Einkauf wurde also ein stumpfer Dispositions-Run anhang vorgeplanter Regalwege. Daher setzt man ergänzend auf Click&Collect Konzepte, baut Pakete mit Grundbedarfs-Produkten und versucht durch eine erhöhte Warenverfügbarkeit der Schnelldreher das Stress-Level unten zu halten, dem Kunden derzeit leider ausgesetzt sind. Eine befreundete Agentur hat mit uns in den letzten Wochen ein Handbuch entwickelt, mit dem Einzelhändler auf ihre lokale Gastronomie zugehen können, damit die Gastronomen ein "Essen-wie-im-Restaurant-Baukastensystem" als verkehrsfähiges Produkt anbieten können. Das erfreut die Kunden, die vor allem auf dem Land mal wieder gerne in ihrem Stammlokal essen würden und hilft der Gastro, die oft kein Take-Away anbieten können. Für die Einzelhändler ist das ein super Tool, um Sortimente zu erweitern und vielleicht sogar eine langfristige Zusammenarbeit mit Restaurants in der Region zu etablieren. Tipp, falls jemand in der Gegend wohnt: EDEKA Pessios in Bad Schwalbach hat ein Dinner-Kit vom Restaurant "Wambacher Mühle".

Bei 3) ging es z.b. darum, die unfassbare Schwemme an automatisierten Kundenzähl-Systemen zu ordnen und Empfehlungen auszusprechen. Die Security-Person vor dem Markt ist teuer und man geht davon aus, dass Kunden das irgendwann auch selbst lernen. Daher hat man Zählsysteme mit einem Ampel-Monitor und steuert damit die maximal zulässige Menge an Kunden auf der Fläche. Bisher sieht es so aus, dass sich Stereoskopische 3D-Kameras und Infrarot-Sensoren durchsetzen, wir haben da eine Matrix mit über 30 Anbietern und viele davon bereits live vertestet. Je nach Gebäudebeschaffenheit, Breite der Eingänge und einer wirtschaftlichen Verwertung für eine Zeit nach Corona gibt es Vor- und Nachteile, die man abwägen muss und durch die wir uns durchgefrickelt haben.

Studien durch zig Stellen werfen für die nächsten 12-24 Monate folgende Prognosen für den LEH aus, auf die man sich vorbereitet:
- Kaufkraft wird zurückgehen, Kunden gehen vom Vollsortiment verstärkt in den Discount
- Einige Rituale aus der "Lockdown"-Zeit werden beibehalten (Kochen, Backen, Gärtnern) und es gibt jetzt die Marktchance, das kontextgerecht zu bedienen
- Online und Low-Touch (Click&Collect, Mobile Shopping Apps) werden weiterhin boomen
- Es ist unklar ob eine mögliche zweite Welle die Länder besonders hart trifft, die als Produzenten für Agrar ab Sommeranfang eine wichtige Rolle spielen

Ansonsten kann ich noch ein wenig rumketzen: Corona hat mehr für die interne Digitalisierung getan als das gesamte Management der letzten Jahre. Wir haben jetzt von 0 auf 100 eine voll funktionsfähige O365-Suite in der Cloud, sind weg von einfachem VPN zu einer sicheren und sehr performanten Remote-Umgebung und auch in der Zusammenarbeit mit Externen viele neue Tools, die einfach funktionieren und keine halbgare Crapsoftware sind, der man anmerkt, dass bei UI/UX Interviews ausschließlich der Head of Cybersecurity interviewed wurde.

Ich persönliche rechne übrigens fest mit einer zweiten Welle und werde den restlichen Mai erstmal nutzen, um Überstunden abzubauen.

Cheers
Jan


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