Thema:
Re:düster = Auslegungssache flat
Autor: token
Datum:21.04.20 15:06
Antwort auf:Re:düster = Auslegungssache von Sven Mittag

>Gut, dies ist vielleicht einfach eine unterschiedliche Auffassung. IMHO sollte bei elementaren Dingen (Landespolitik) niemals der Fokus nur auf das (Haupt-)Problem liegen, sondern immer soweit menschlich überhaupt möglich auf nahezu alle Faktoren. Gerade bei so Kleinigkeiten wie den Einschränkungen der Grundrechte.
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Ja, stimme ich zu. Bezog sich auch darauf was ich persönlich als Argumente angeführt hab, da ich deinen Standpunkt diese Dinge würden ausgeblendet eben auf den Diskurs und nicht die Politik bezog.
Im Hinblick auf die Politik glaube ich auch nicht dass diese Aspekte ausgeblendet werden. Schon Laschet und Söder, obwohl grundsätzlich im selben Team, kann man ja schon als oppositionelle Kräfte begreifen die zu einem Konsens moderiert werden müssen.

>Ich glaube, hier gibt es keinen Diskussionsbedarf. Der Lockdown war in Deutschland alternativlos. Sicherlich auch aufgrund der Politik, die viele Schritte zu spät hat gehen wollen (Fasching), aber halt nicht nur (Der Effekt vom Österreich-Tourismus war sicherlich nicht seriös absehbar).
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Es gibt einiges aufzuarbeiten. Auch die Details zum Umgang mit Ischgl erweisen sich nicht nur retrospektiv als fahrlässig. Wobei in der gesamteuropäischen Politik quasi niemand hoch zu Ross sitzt, Ischgl wäre, so vermute ich, in jedem anderen Land Europas genau so abgelaufen und konnte eben auch nur so spreaden weil es überall auf nahrhaften Boden fiel.

>Und hier fängt mein Problem mit dem jetzigen System an. Aus Angst einer "zweiten Welle" ist die Politik zu vorsichtig. Zwar kann ich es aus Sicht der Politik verstehen, als Naturwissenschaftler aber nicht. Die Gefahr eines Reflaming in der Gesellschaft besteht bei jedem Schritt und mag er noch so vorsichtig sein. Die Wahrscheinlichkeit bei einer langsamen Öffnung ist nicht zwingend geringer. Das Hauptproblem ist ja nicht, ob Media Markt und Spielplätze offen sind, sondern wie verantwortungsvoll die Bevölkerung mit den Massnahmen umgeht. Perfektes Hygienemanagment und wird bräuchten gar keine Einschränkungen bis auf die der Hygiene selbst. Und ja, mir ist klar, dass hier menschliche Habits und generell der Bildungsstand der Gesamtbevölkerung dieses Szenario zur reinen Utopie verkommen lassen. Es können aber auch schon leichte Lockerungen verheerende Folgen haben, wenn die Bevölkerung dies als Anreiz sieht, die Gefahr wäre komplett gebannt oder aufgrund von Frust den Weg nicht mehr mitgeht.
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Dem will ich gar nicht widersprechen.
Ich glaube hier kommen diverse Komplexitäten zusammen die mir persönlich die Politik der kleinen Schritte als plausibel und angemessen erscheinen lassen. Diese Perspektive fußt natürlich auf Annahmen, und wenn diese Annahmen falsch wären, was natürlich sein kann, wären auch die Schlussfolgerungen falsch.
Ich nehme jedenfalls an, dass es vom psychologischen Effekt der Signalwirkung inkompatibel ist, einerseits im großen Stil zu lockern und dabei effektiv zu vermitteln dass diese Lockerung unbedingt mit einer Verschärfung im Verhalten einhergehen muss. Entsprechend halte ich kleine Lockerungen (die bei genauer Betrachtung gar nicht so klein ausfallen) im Einklang damit gebetsmühlenartig zu vermitteln dass man auf dünnem Eis steht, für strategisch sinnvoll um die Bürger entsprechend zu sensibilisieren.
Kann man auch anders sehen.

Des weiteren nehme ich auch an, dass die Ausgangslage für Lockerungen immer noch recht wackelig ist. Mehr Lockerungen würden einen erhöhten Individualschutz erfordern, wie du selbst anführst. So verstehe ich etwa dein Plädoyer für Hygieneaufklärung. Wobei ich nicht weiß wie bspw. mir persönlich Hygiene allein helfen könnte, wenn ich im Alltag schon rein logistisch Abstände nicht mehr einhalten kann. Dann bräuchte ich doch eigentlich einen Mundschutz, oder nicht? Gibt es aber noch nicht in ausreichenden Mengen.

Zu guter letzt sind Infektionsherde nun schön über ganz Deutschland verteilt. Auch wenn die Trends positiv sind ist die Basis für eine Ausbreitung aus Perspektive von Corona nun ein Träumchen. Man lockert nicht lokal sondern im ganzen Land, wenn man sich hier verspekuliert brennt der Baum dramatisch schnell. Wie schnell sowas gehen kann haben wir schon schmerzhaft lernen müssen. Und da war die Ausgangslage für das Virus in Sachen Infektionsbasis und Verteilung schlechter. Jetzt ist sie im Grunde deutlich besser und dieser Vorteil beim Virus muss entsprechend durch das Verhalten der Bevölkerung kompensiert werden.

>Und hier sehe ich (und ja Ethikrat, Leopoldina, Kassenärztliche Vertretung) das Problem am deutschen Weg: Die Angst auf Versprechungen führt zu einer momentan sehr perspektivlosen Politik.

"Momentan". Wobei diese Politik ja durchaus eine Langzeitstrategie kommuniziert, nämlich die Strategie so viel zu lockern wie möglich und Infektionsherde zu löschen um die Maßnahme Lockdown als letzte Bastion gegen das Virus im Notfall nur noch lokal zünden zu müssen.
Ob das aufgeht wird sich zeigen müssen, wenn es aufgeht ist es aber ein Modell mit Perspektive. Natürlich ist auch das zum aktuellen Zeitpunkt ein Experiment, allerdings keines das man erfunden hat, sondern eines was bislang in einigen asiatischen Ländern mit Erfolg praktiziert wird.

Jedenfalls ist Vertrauen in die Führung bei jeder Krise ein enorm wichtiges Kapital. Wenn man aufgrund dessen dass man Einschätzungen trifft die man gar nicht valide treffen kann, diese kommunziert, und dann im Nachgang wieder revidiert, verspielt man dieses Kapital. Ich empfinde die aktuelle Kommunikation als bodenständig, offen und seriös. Mir persönlich geht es damit besser als mit wilden Versprechungen, und von Versprechungen die dann revidiert werden müssten, kann sich die Industrie auch nichts kaufen.

>Wieso (auch ohne Wissen des genauen Verlaufs) zumindest nicht einen groben Fahrplan für die langsame Öffnung und eine Exitstrategie nennen.

Ich sehe durchaus einen groben Fahrplan in der aktuellen Regierungserklärung. Jedenfalls im Hinblick auf die Eindämmungsstrategie. Und im Hinblick auf die anstehenden Lockerungen hat man sich wie ich finde nicht gerade wenig vorgenommen.

>Wieso immer nur kleine Schritte mit dem Vermerk "Und dann schauen wir mal in 2 Wochen". So etwas ist schlicht zermürbend. bzw. für manche Industriezweige (Gastro, Hotellerie) schier haltlos. Mir ist klar, dass von den Politiker niemand die Schmach des Zurückruderns haben will. Aber da dieses Risiko selbst beim vorsichtigsten Vorgehen immer im Raum steht, wäre es wichtig einen nachvollziehbaren Plan zu bieten.
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Nochmal, was hat die Industrie von Versprechen die sich dann doch nicht bestätigen. Wenn sie selbst planen soll, braucht sie auch valide Annahmen die dann mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreffen. Sind keine validen Annahmen möglich, wäre es doch welche zu treffen nichts anderes als politische Dampfplauderei.
Zudem kommt eine kleinschrittige Politik nicht nur mit dem negativen Effekt von perspektivischen Unwägbarkeiten einher, es gibt auch positive Effekte. Etwa dass Erfolge wenn Annahmen eintreten hochfrequenter sind, und man so sukzessive Motivationsspitzen hat wenn man erfolgreich agiert.

>Und auch hier kommt gleich der nächste Kritikpunkt: Wieso machen Sie alles so langsam? Wenn ich ein Konzept habe, kann ich dieses halt auch konsequent vorbereiten. Wieso wurde die Leopoldina so spät eingeschaltet. Wieso überhaupt nur die Leopoldina? Wieso bei so elementaren Umwürfen in der Gesellschaft nicht Fachgruppen für jeden betroffenen Teilaspekt? Wieso sollen die Kultusminister erst Wochen nach Lockdown sich Gedanken über das Vorgehen von Schulöffnungen machen. Dies sind Dinge, die eigentlich schon ab Tag 1 der Kontaktbeschränkungen in Angriff genommen gehört hätten. Und wo jetzt schon ohne weiteres seriöse Pläne stehen könnten.
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Diese Gedanken hätte man sich nicht schon an Tag 1 sondern an Tag -1000 machen müssen. Da man das versäumt hat, steht man nun vor einem Berg den man logistisch nicht in einem Ruck komplett abtragen kann. Ich würde perspektivisch, wenn sich die Lage entspannen sollte, auch erwarten dass man hinsichtlich der weiteren Schritte effizienter und vorausschauender wird, wenn ich jedoch sehe wo wir eigentlich herkommen würde ich die Aspekte die du kritisierst weniger als Versäumnis sondern einfach nur als logisch zwingende Folge der akuten Krisensituation begreifen. Bei der ich im Ländervergleich auch nicht ausmachen könnte dass sich Deutschland hierbei als sonderlich schlafmützig erweist, im Gegenteil.  

>Naja, du hast selbst mal sehr treffend gesagt: In einer Krise muss man schauen, was realistisch machbar ist, nicht was wünschenswert ist. Der Risikogruppe bleibt bei jedem Modell nur der konsequenten Selbstschutz durch entsprechende Hygienemassnahmen. Deine Aussage im vorigen Thread trifft zwar zu, dass beim Schwedenmodell das Risiko für die Risikogruppe grundsätzlich höher ist, da statistisch bei Fehlverhalten die Wahrscheinlichkeit auf Infektion zunimmt bei höherem Grundrauschen. Aber dies halt auch nur über eine gewisse Grunddauer und stetig abnehmend je höher der Durchseuchungsgrad ist. Das schwedische Modell (und dies kommunizieren sie ja auch) nimmt dies sehr bewusst in Kauf. Ebenso eine höhere Sterberate innerhalb der Bevölkerung. Eben mit dem Argument, dass sie annehmen, dass diese am Ende nicht so viel höher liegen wird (reiner educated guess der Entscheidungsträger) und die gesellschaftlichen Schäden dies aufwiegen (reiner educated guess der Entscheidungsträger). Dennoch fahren Sie momentan nach den harten Fakten (Sterberate auf Gesamtbevölkerung) gar nicht mal SO schlecht und deutlich besser als die deutsche Presse und manche User hier immer rausposaunen.

Ich persönlich denke nicht dass das Schwedenmodell zwangsläufig scheitern muss. Es unterscheidet sich auch nicht signifikant von einem Modell in Deutschland das nach Lockdown lockert. Und du sagst ja selbst, der Lockdown musste sein.
Der einzig markante Unterschied wäre dass Schweden nicht probiert Infektionsherde komplett zu ersticken und die Zahl an Infektionen so gut es geht auf ein Minimum zu beschränken. Was auch im Hinblick auf Risikogruppen in einem Szenario funktionieren kann. Nämlich in einem wo es zu einem Herdenschutz durch Erkrankung kommt. Ich hielt diesen bislang nach den kommunizierten Aussagen nicht für möglich, da die Mortalitätsrate dafür drastisch niedriger sein müsste als angenommen und auch der Verlauf der Krankheit beim absoluten Großteil der Fälle so verlaufen müsste dass keine signifikante medizinische Betreuung zur Kurierung notwendig wäre.

Da diese Aspekte bislang verneint wurden, bin ich auch ein wenig verwirrt über Tegnells Aussage in Stockholm könnte vielleicht schon ein Durchseuchungsgrad von 30% erreicht worden sein. Das ist eine Millionenstadt.
Wenn sich sowas bestätigen sollte, dann öffnet es valide Optionen und wirft schon für geklärt gedachte Fragen erneut auf.

Ich hab da auch keinen dogmatischen Standpunkt, mir ist nur wichtig dass man versteht was man tut und die Konsequenzen der politischen Entscheidungen mit sehr hoher Wahrscheilichkeit einwerten kann, und solange man dafür keine Basis hat ist mir sehr wohl dabei eine äußerst risikoarme Strategie zu wählen, weil ich denke, die Fallhöhen und damit implizierten Schäden sind einfach zu groß und haben das Potenzial die möglichen Kostenersparnisse die durch mehr Risiko winken im Fall des Scheiterns mit den Kosten eines dann eventuell erforderlichen damage controls um ein Vielfaches zu sprengen.

>Um zum Schluss zu kommen: Die Idee hinter der Strategie ist einfach. Während einer Pandemie werden immer Menschen sterben. Nur ein Lockdown kann dies verhindern, aber halt auch nur so lange der Lockdown besteht. Jede Öffnung wird uns die Schweden aufholen lassen. Je näher wird dem schwedischen Modell kommen, desto mehr werden sich die Todeszahlen angleichen. Und hier heißt es halt am Ende abwägen, wie viele andersweitige Probleme ein offensichtlich gerettetes Menschenleben einem wert ist. Dies ist kein angenehmer Gedanke, entspricht aber halt die Abwägung, die man gerne mal in der Medizin oder Politik treffen muss. Am Ende wird die deutsche Politik aber auch bei uns bis zu einem gewissen Grad wieder Normalität schaffen müssen, da wir eben nicht von Zeitspannen über Wochen oder ein paar Monate reden. Sondern realistisch von mindestens 18 Monaten und spätestens in ein paar Monaten wird die Bevölkerung nicht mehr so positiv der Sache gegenüberstehen.
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Erschließt sich mir durchaus, sah ich bislang auch nicht anders.
Nur mit einem Unterschied, eine Erstickung von Infektionsherden würde uns im Erfolgsfall eben nicht an Schweden annähern. Es sei denn es käme tatsächlich ein signifikanter Herdenschutz in Schweden zu Stande, der würde Risikogruppen auch effizient schützen und wäre ein entsprechender Gegenpol zur Eindämmungsstrategie, die sich in ihrer Funktionalität ja eh noch beweisen müsste.

>Gleiches gilt aber halt auch umgekehrt für Schweden (und jede vernunftbegabte Regierung). Sollte deren Infektionskurve sich nicht weiter (wie sich ja gerade abzeichnet) langsam sinken, werden die im Notfall sicherlich auch einen Lockdown anstreben müssen. Dies haben Sie ja selbst kommuniziert und nun auch vorab die rechtlichen Grundlagen dafür geschaffen.

Jo. Aber das alles bitte mit einer belastbaren Datenbasis und nicht mit Konjunktiven und Indizien. Solange die nicht gegeben ist, plädiere ich weiterhin für "Vorsicht ist die Merkel der Porzellankiste." Und das hat für mich weniger mit Ängsten sondern viel mehr mit Vernunft und Verantwortungsbewusstsein zu tun.


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