Thema:
Re:Kommentar bei heise flat
Autor: Sven Mittag
Datum:16.04.20 14:30
Antwort auf:Re:Kommentar bei heise von token

>Erstmal sollte man bei einer Bewertung der Sinnhaftigkeit nicht in worst cases argumentieren. Denn das ist nicht der Standardfall.
>In einem worst case mit großem Spread bei dem Infektionsketten nicht mehr nachvollziehbar sind, agiert man ja auch nicht mehr mit dem Skalpell sondern mit der Axt. Schon die Regierungserklärung behält sich vor in solchen Fällen wieder Lockdowns zu zünden, nur eben keine nationalen sondern lokale.


Naja, das ist ja nicht DER worst case, sondern halt nur exemplarisch ein sehr realistischer worst case. Du musst nur unten in der Infektionspyramide nen super spreader haben (generyx nach Ladenöffnungen oder meinetwegen mich mit gut 50 engen und jeweils neuen Fremdkontakten pro Tag) und schon kannst du ein ganzes Bundesland mit deiner Axt fällen und zwar rein auf Verdacht des Kontaktverlaufs und dies jedes gottverdammte Mal wo dieses Szenario eintritt.

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>Des weiteren sollten wir auch noch mal heraus heben, wie die App funktioniert, nämlich nicht so dass sie alles und jeden pingt der kurz vorbei huscht, sondern da auch eine höhere Kontaktdauer gegeben sein muss. Und das passiert auch nicht in der alten Welt wo alles cool war mit Rudelbumsen auf offener Straße, sondern der neuen mit Abständen, reduziertem Publikumsverkehr, social distancing etc.


Auch hier fang ich immer an zu Runzeln. Wann schlägt denn die App Alarm. Gemäß RKI-Richtlinie nach 20 minütigen "ungeschützten" Kontakt? Wie sinnhaft sind diese Regeln, wenn ich in dieser Zeit nicht zwingend eine Infektion provoziere. Ein versehentliche ungeschützter Nieser jedoch schon aus großer Entfernung in ner zehntel Millisekunde. Sprich: Ich setze Quarantänen, wo nicht nötig. Wo sinnvoll jedoch nicht, weil ich es nicht wirklich zurückverfolgen kann.

>Das Argument "funktioniert doch alles eh nicht" ist ziemlich fatalistisch und wenig konstrunktiv. Unsortierter Publikumsverkehr ist im Grunde kaum anders zu tracen wenn man nicht bei jeder Infektion sofort die schweren Geschütze auffahren möchte, und direkter und schneller kann man mit möglichen Betroffenen nicht kommunizieren. Das allein sind doch schon ziemlich gute Argumente für so ein Werkzeug. Abwarten und Tee trinken, wie das Konzept in der Praxis aufgeht. Und wie gesagt, ist die App ja nur ein Werkzeug von vielen. Im schlimmsten Fall ist dieses Werkzeug viel zu ineffizient um zu helfen, im besten Fall leistet es einen Beitrag der hilft in bestimmten Fällen nicht zum Lockdown greifen zu müssen um einen Infektionsherd wieder einzufangen.

Diese Argumente haben auch absolut nix mit Fatalismus zu tun. Ich komme halt nur aus nem Beruf, wo Infektionsschutz an oberster Stelle steht. Und so bin ich halt persönlich der Meinung, dass ne App (wie leider momentan recht vieles) undurchdachte Augenwischerei ist. Ja, sie nimmt den Behörden massiv (!) Arbeit ab bei der ja schon zuvor verfolgten Tracing-Strategie. Die war halt leider schon angesichts der Viruseigenschaft per se purer Schwachsinn.

Wünschenswert wäre imho eine sinnhafte Hygieneerziehung der Bevölkerung, die aus mehr besteht als "Tragt Mundschutz (ohne zu wissen, wie man damit umgeht)" und "wascht 20 Sekunden die Hände (weil es damit ja schon getan ist und eh viel besser wirkt als Desinfektionsmittel". Hier wäre halt ne Dauerbeschallung mit sinnvollen Verhaltensregeln in Radio, Internet, Fernsehen imho deutlich effektiver - vor allem im Hintergrund der noch sehr langen Dauer des Status Quo - als viel Energie in ein sehr wahrscheinlich zum Scheitern verurteiltes Konzept zu stecken, weil...ja...weil digital und so.

Allein hygienisches Händewaschen ist eine Wissenschaft für sich und muss überhaupt sehr umfangreich gezeigt und geübt werden. 20 Sekunden schrubben und spülen, bringt bei weitem nicht den gewünschten Effekt. Anektode am Rande: im siebten Semester hatten wir Mikrobiologie. Da wir schon sehr früh Kontakt mit Patienten haben, wird Hygiene extrem groß geschrieben mit drakonischen Strafen bei einem Hygieneverstoss. Man könnte also meinen, dass nach 3,5 Jahren Schulung da was hängen geblieben ist. Wir machen also in Mikrobio nach chirurgischer Händedesinfektion alle nen Abklatsch, den wir uns nach 4 Wochen nochmal anschauen. Ergebnis: 2 von 25 Agar-Platten waren keimfrei (meine ist natürlich darunter, aber als Chirurgie bin ich ja bekanntlich eh seit Geburt steril). Der Rest trotz angekündigter Testung, geschultem Personal und Desinfektionsmittel und nicht nur Seife mit ner tollen Keim-Party besiedelt.

Auf der anderen Seite kommt die Regeln halt von Leuten, die sich trotz Kontaktverbots mit 20 anderen in einen Fahrstuhl quetschen...und sich dabei noch fotografieren lassen.


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