Thema:
SHOAH (Claude Lanzmann, 1985) flat
Autor: peppi
Datum:02.01.20 15:17

Vorletztes Jahr ist er gestorben, seitdem liegen die vier DVDs neben dem TV. Kurz nach Weihnachten ne Erkältung gefangen, an Silvester zuhause geblieben, die Filme, die insgesamt neuneinhalb Stunden dauern, begonnen (Gibt es einen guten Zeitpunkt für diese Filme?).

Hab jetzt 3/4 hinter mir und bin platt: ja, der Film ist hart und verdammt unbequem. Aber von enormer Wichtigkeit, blabla, jaja, können alle auch überall so lesen. Stimmt ja auch. Ihn zu gucken ist nochmal ne andere Nummer. Es gibt keinerlei Archivaufnahmen. Keine Leichen, brennenden Häuser usw., was viele kennen. Keine Nazischergen, die Leute in die Waggons knüppeln. Der Kerl ist mit seinem Team jahrlang durch Europa gefahren, hat in Schneideräumen gesessen und hat Schauplätze des Holocaust (Treblinka, Sobibor, Auschwitz, vor allem Polen, aber auch NYC, Korfu, Berlin, das Ruhrgebiet, Tel Aviv, uvm., insgesamt elf Jahre, IMO) abgefilmt. Dazu Überlebende, Täter (versteckt gefilmt), Zuschauer*innen befragt/gefilmt. Dazu werden Bahnstrecken und Feldwege, die die Vernichteten genommen haben, abgefilmt. Keine Musik. Keine Einordnungen.  

Fragen gestellt hat er. Fragen, Fragen, Fragen. Jedes Detail. "Welche Farbe hatte der LKW, in dem die Menschen in Chelmno vergast wurden?" "In welcher Kirche wurden sie festgehalten?" "Hier? Da drüben? Genau hier?" "Singen sie doch mal, was die Wachmannschaft damals so gesungen hat." "Singen sie nochmal."

Er fragt ganz offen, ob dieses Haus in einer polnischen Stadt nicht früher jüdischen familien gehört hat und es ist heftig, wie es keinen Menschen juckt, dass sie "nicht mehr da sind". Der Antisemitismus ist so greifbar, er muss gar nicht offen angesprochen werden. Die Menschen verheimlichen nicht mal ansatzweise, dass das Töten schon irgendwie doof war, dass die Schreie unangenehm waren, das Gestöhne, die rufe nach Brot und Wasser, aber dass sie nicht mehr da sind, das stört nicht so recht. Einer habe auch mal gehört, dass eine Rabbi gesagt habe, kurz vor der Deportation in Warschau, dass das jetzt vielleicht die Strafe sei für den Verrat an Jesus, ja, kann doch sein, sagte er ja selbst!?

Dabei kommen Gespräche zustande, die so eindrücklich sind, dass ich sie mein Leben lang nicht vergessen werde: Abraham Bomba, ein Überlebender Treblinkas, der als Friseur den Frauen die Haare schneiden musste (zur Weiterverwendung in DE), und das direkt vor der Tür in die Gaskammer, alles wie am Fließband, die letzte Tür, durch die sie jemals gehen sollten, erzählt (er will erst nicht, sein ganzer Körper rebelliert, seine Gesichtszüge entgleisen ihm, Lanzmann überzeugt ihn aber davon, wie wichtig es ist, dass er Zeugnis davon ablegt was er erfahren hat), dass ein Freund von ihm, auch Friseur, auch zum Haareschneiden dieser Frauen gezwungen (die zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, und die Männer dürfen es ihnen nicht sagen,  die Nazis stehen hinter ihnen - und was soll das denn auch bringen? fragt ein anderer, fragt er in die Kamera), seiner Frau und seiner Schwester die Haare schneiden muss. Und er macht das, was er in dem Moment tun kann: er küsst und umarmt sie, so lange wie möglich, ein paar Sekunden also - und dann gehen sie durch die Tür.

Der BR hat sich damals gegen die Ausstrahlung gewehrt, steht im Wiki-Artikel.

Ein guter Text zum Film, IMO:

[http://www.filmzentrale.com/rezis/shoahkk.htm]

Es gibt unzählige Bücher über die faschistischen Todeslager, und es gibt viele Filme, die sich von den Büchern - von dem, was Bücher vermitteln können - nicht wesentlich unterscheiden. SHOAH hingegen erarbeitet für das Thema eine neue Ebene des filmischen Sprechens und filmischer Zeichen. Der Film bereichert das Medium, indem er seine Grenzen - und die Grenzen dessen, was Menschen überhaupt ausdrücken können - überschreitet.


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