Thema:
Fazit (lang, aber geil) flat
Autor: thestraightedge
Datum:16.02.23 21:20
Antwort auf:Cyberpunk 2077 - Gen 6 - New Gen included von Pfroebbel

(leichte Spoiler vorhanden)

Was mir echt gefallen hat, und weshalb ich den Titel nach 50 Stunden als einen der wichtigsten der letzten 10 Jahre bezeichnen würde:
- die Story ist ne Wucht. Komplex aber nachvollziehbar, spannend und mitreißend. Die ganzen Fraktionen, das Drama, die Umwelt, das trägt alles immens zu einer derart spannenden Story bei, dass ich tlw. wirklich wie bei einer Serienepisode kaum abwarten konnte, wie und dass es weiter geht. Dazu muss man allerdings das Pacing geschickt selbst bestimmen. Wenn man durch die Mainstory rusht verpasst man imo eine Menge, und das im Nachgang zu machen entfaltet nicht den gleichen Sog. Ich hatte mich vorher eingelesen wie mans am besten angeht, aber da hätte das Spiel ein wenig mehr Guidance bieten können. Davon ab ist die Balance einer eher kurzen Main Story und viel Flexibilität bei den umfangreichen, tlw. exzellenten Nebenmissionen, eine tolle Entscheidung für Menschen mit überschauberer Zeit fürs zocken.

- die Art und Weise, wie die Story transportiert wird, ist sensationell. Ich habe noch nie so ein erwachsenes, ernstes Spiel gespielt, in dem es von feinem Humor über psychische Probleme, Liebe und Sex und eben auch Gewalt, Hass, Rache derart viele Facetten gibt, die derart gewichtig präsentiert werden. Ich erinnere mich an die Szene mit Johnny am Motel in der Wüste, nach dem Heist von Hellmann, und die Dialogoptionen dort, und die Verzweiflung mit der meine weibliche V und Johnny interagiert haben, am Ende aber eine Art Einigung fande - WOW! Auch jede Entscheidung hat Wucht, man hat wirklich das Gefühl, die Geschicke seines Charas zu gestalten. Das ganze ist dann auch noch so geschickt verwoben, dass man später merkt, was man an anderer Stelle im Spiel gemacht hat.

- ich habe selten so tief und überzeugend und facettenreich portraitierte Charakter bis in die Nebenmissionen gesehen. Das war film-würdig bzw. deutlich darüber hinaus, eher schon auf dem Level eines Buches.

- die Nebenmissionen sind tlw. top und Hauptmission-würdig. Im Guide ist das ja auch deshalb unterteilt, es gibt Haupt-Nebenmissionen und sekundäre Nebenmissionen. V.a. die Haupt-NM sind top, also die Storyarcs um Panam, Rogue, Judy, River, ...

- die Entscheidung, ALLES in First Person Sicht zu zeigen, ist die beste überhaupt. Zumindest bei mir funktionierte die Immersion so besser als bei ständigen Perspektiv-Wechseln, die ich oft eher störend und als Bruch empfinde.

- Night City bzw. die geschaffene Welt und die dichte Atmosphäre, das Ambiente, der Stil ist einfach geil. Zwar fiel mir anders als in allen anderen Open World Titeln die Orientierung eher schwer, aber die Optik, die Details, jede Ecke sieht nicht bliebig sondern bewusst dahin gebaut aus. Fantastisch. Auch die Cyberspace-Passagen, die Art und Weise wie man mit der Umwelt agiert usw. sind alles erstklassig und immens abwechslungsreich, das ganze Lore ein Traum. Ein bisschen mehr Vertikalität wäre gut gewesen, aber nungut, die Stadt war so schon eine Mammutaufgabe.

- Stealth funktioniert gut. Damit verbunden ist auch die Balance, mit der man Missionen angehen kann, sehr gut gelungen. Ich bin eher der offensive Spieler, aber hier ging mir das schleichen, hacken, verwirren einfach super von der Hand. Nicht zu plump, nicht zu komplex. Die Mall habe ich bis auf den fetten Zwischengegner ohne einen Schuss geschafft. In anderen Missionen habe ich mich durchgeballert, und es war ein Fest.

- Technik / Optik: in der PS5-Version inzwischen ein Traum. Alle Grafikmodi sind geil, auch wenn das HDR nicht so gut balanciert ist wie bei Horizon. Dennoch: tlw. mit Ray Tracing und HDR durch die Stadt zu wandeln, die Neonreklamen in den Pfützen spiegeln sehen, die Nudelküche dampft, jeder Ecke sieht irgendwie geil aus - mindblowing, imo. Einschränkungen? Siehe unten.

- ich fand die Enden i.O., es ist halt alles ein wenig fatalistisch. Ein befreites, Happy End hätte ich mir ebenfalls gewünscht, aber ich habe noch keins erspielen können. Die Wahlmöglichkeiten im Cyberspace fand ich an sich gut, mich hätte aber das Leben danach im Cyberspace noch irgendwie interessiert.

Was mir nicht so gefiel:
- grundsätzlich fehlte das Heranführen an die Welt, die Systeme, die Stadt. Hier muss man sich mal GTA V anschauen, welches durch geschickte Missionsführung die Stadt nach und nach auch räumlich erschliesst und die Elemente behutsam einführt. Bei CP wird man in einer sehr engen FPS-Sicht ins Auto geworfen, fährt von A nach B, und fragt sich auch nach 10 Stunden noch, wo man hier gerade eigentlich steckt. Das liegt natürlich auch an der immens verschlungenen, verworrenen Architektur der Stadt, und damit ists auch schon wieder geil irgendwie. Auch nach 30 Stunden findet man noch belebte Back Alleys und Märkte, die Flair verströmen.

- es ist immer noch hier und da buggy. Ich habe selten in einem Spiel so viele Clipping-Fehler gesehen, tlw. fehlt den Gegenständen jegliches Gewicht, Charakter morphen mit Giraffenhälsen aus Autos heraus usw. Das ist schon tlw. ein Immersions-Breaker. Auch gibts Stories, die nicht weitergehen. Der Judy-Ast ist bei mir beinahe versackt, weil der Trigger fehlte und der Anruf nach 24 Std. nicht kam. Dann las ich auf reddit, dass man doch zu der und der Uhrzeit den Fahrstuhl x in Megabuilding y nehmen, und tatsächlich: der Anruf kam! Sowas ist doof und kann echt problematisch sein. Grundsätzlich mag ich gar nicht daran denken, wie das Spiel bei Release aussah und sich spielte.

- auch zu Dingen wie den Implantaten usw. gibt es in meinen Augen zu wenig Infos, v.a. anfangs. Das ist alles irre komplex, und es steht recht früh in vollem Umfang zur Verfügung. Dazu habe ich hier und da auch Infoboxen weggeklickt, weil ich in der Sekunde des Popups eine ganz andere Funktion ausführen wollte - die werden nicht gelogged soweit ich das sehe. Grundsätzlich ist das System mit Leveln und Perks  und Implantaten verteilt auf dutzende Kategorien imo überfrachtet, was man ja oft als Kritikpunkt liest. Ich fand ja das Skill-System bei Horizon schon kritisch - hier verteilen sich die Punkte dann auf 5 Kategorien die gelevelt werden, mit Perks in 5x 3 Unterkategorien, mit jeweils ca. 30-40 Attributen, die jeweils wieder in sich mit Stufen levelbar sind. o.O Ich habe z.B. kaum Zeit bei den Ripperdocs verbracht, weil ich den Vorteil als zu gering empfand und die Kosten zu hoch. Auch craften ist verzichtbar, ich fand das Spiel auf normal über weite Strecken zu leicht, nur um dann einen beliebigen Gegner zu treffen (Mission Sinnerman), die mir komplett jede Chance nahmen. Strange. Auch die Waffen sind tlw. imba. Man bekommt was "epic" mässiges das wirkungslos ist, und dann kriegt man ne "common" Shotgun mit der man alles wegflext. Nunja. Am Ende wars bei mir komplett imba, ich hatte keine großen Implantate gekauft und nur Level 26, konnte aber auf normal in der Endmission alles wegflexen, ohne auch nur einmal zu sterben.

- einige Sequenzen sind krass trashig, so z.B. die Railshooter-Einlagen in Akt 1. Das ist so hakelig, beliebig und albern, ohne Gewicht und Masse für Knarren oder Gegner, das es schon traurig ist, weil weite Teile des Restes sehr gut sind. Wer nur das spielt denkt sich, er würde einen B-Movie-Titel einer Portierungsklitsche spielen.

- so toll vieles aussieht, so gabs auch Shots, die von der XBox 360 hätten stammen können. Das ist keine Übertreibung. Ich habe mal von V ins Atrium der ersten Bude runtergeschaut und dachte aufgrund ungünstiger Lichtgebung: oh leck, ist das hässlich! Da merkt man halt schon die Herkunft aus der Last Gen. Bei der Tauchsequenz musste ich fast lachen, weil ich ja vorher Horizon gespielt habe. Okay, unfairer Unterwasser-Vergleich... ;)

Fazit: in Teilen ein Meilenstein, und schade dass es offenbar anfangs zu buggy war, was dem Titel geschadet hat. In der aktuellen Version für mich locker in der Top 10 ever. Dieses Spiel gehört auf den Spiele-Olymp, und hiermit appelliere ich an alle die es aus den verschiedenen Gründen noch nicht gespielt haben: Spielt es!


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