Thema:
Zur Story (Spoiler markiert) flat
Autor: heffer
Datum:31.12.20 22:01
Antwort auf:Cyberpunk 2077 — 4 the Luo Clan! von Karotte

So, nach 50 h netto läuft der Abspann. Insgesamt ein Spiel in dem viel drin steckt, auch viel Gutes, teilweise Exzellentes, aber das am Ende doch enttäuscht.

Damit das Posting nicht völlig ausartet, hier mal nur ein paar Punkte zur Story, erstmal: Da ist irre viel Gutes drin, jede noch so unbedeutende Nebenfigur ist stimmig und hat Wiedererkennungswert (charakterlich und visuell gleichermaßen), die Dialoge sind gut, die Ideen der Sidequests teils völlig abgefahren, die Hauptstory hat absolute Highlights, die Inszenierung ist superb... es ist alles da. Aber durch das gesamte Spiel ziehen sich zwei Probleme, die den Gesamteindruck ganz erheblich schmälern.

Punkt 1: Der gesamte Multiple-Choice-Aspekt ist missraten. Über die Anfangsauswahl bis hin zu so ziemlich jeder Auswahlmöglichkeit in den Dialogen, es stimmt nichts. In Stichpunkten:

- Der Anfang. Gefällt eigentlich fast keinem, spätestens bei dem Zusammenschnitt aus dem Leben von Jackie/V muss jeder stutzen. Dabei ist der als montageartige Einführung in die Welt von Night City völlig in Ordnung, die Sequenz kommt nur zur falschen Zeit. Alles wäre ok, wenn die Geschichte genau hier starten würde, Aufbau und telling wären völlig logisch. Man hat aber offensichtlich nachträglich für jeden der drei Lebenswege (die ab dem Zusammenschnitt alle gleich verlaufen) einen gesonderten (völlig überflüssigen) Einstieg reingeklatscht, so dass die Montagesequenz zu einem Zeitpunkt kommt, an dem man keine Exposition mehr erwartet. Das ist dann auch ein deutlich spürbarer Bruch. Sicherlich nicht schwerwiegend, aber das erste Mal, in dem sich der Multiple-Choice-Kram negativ bemerkbar macht.

- Jedenfalls für Corpo/Konzerner hat die Anfangsauswahl null Bedeutung, stört eher sogar, weil das Spiel mehrfach eine klassische vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Story andeutet. Der Hauptcharakter hat nichts an sich, was auf eine Herkunft aus höherer Schicht hindeutet. Wenn das Spiel die Corpo/Konzerner-spezifischen Antworten nicht eindeutig als solche kennzeichnen würde, hätte ich sie nicht einmal bemerkt. Was zB an "Wer hat Ihnen erlaubt zu denken?" konzerntypisch sein soll, muss mir erst jemand erklären.

- Überall pseudo-Antwortmöglichkeiten. Selbst auf die simple Frage, ob man lieber alt und ein nobody oder als Legende früh sterben möchte, gibt einem das Spiel nur eine Antwortmöglichkeit in zwei Formulierungen. Ist ja ok, wenn mir die Antwort vorgegeben wird, aber dann doch bitte keine Wahl vorgaukeln und erst recht nicht so offensichtlich.

- Viel schlimmer noch: Die Antwortmöglichkeiten sind durch die Bank uninteressant. Wenn ich nur an Kotor, Mass Effect oder Witcher 3 denke, da hatte ich ständig Antworten zur Wahl, bei denen ich unbedingt wissen wollte, wie mein Gegenüber darauf reagiert oder solche, die so witzig/provokativ waren, dass ich einfach nicht widerstehen konnte. Gott, wie habe ich das bei Mass Effect geliebt, mitten im Gespräch die Verbindung zum Rat zu kappen. Cyberpunk ist in der Hinsicht zum Einpennen, bis auf die Annäherungsmöglichkeiten in den Romanzen (die jetzt auch nicht sonderlich originell sind) ist bei mir nichts hängengeblieben.

- Was auch immer die Ursache ist:  Mein V war ein völlig inkonsistenter Charakter.  Vielleicht liegt es daran, dass der Charakter teilweise vordefiniert ist, teilweise die Antworten dann aber doch selbst ausgewählt werden können. Nein, das war beim Witcher auch so und trotzdem blieb Geralt ein stimmiger Charakter. Hier passen die Antworten schlechter zusammen, da steckt zu wenig Planung und Finesse hinter. Es ist mit Sicherheit auch nochmal schwieriger, dem Mainchar ein Profil zu geben, wenn man die Geschichte (fast) komplett aus der Ego-Perspektive erzählt, ich find das Ergebnis aber geradezu erschreckend. Ich könnte jede Figur im Spiel charakterisieren, aber fragt mich mal, was mein V eigentlich für ein Typ war: keine Ahnung. Mal so, mal so. Irgendwas von allem.

- In vielen Spielen mit Multiple-Choice-Dialogen schweigen die Hauptcharaktere entweder komplett oder wirken zumindest recht kühl/distanziert wie zB der Hexer. V hingegen ist anders und reagiert zum Teil recht emotional, was aber in den Multiple-Choice-Dialogen null funktioniert. Wenn man sich erst in Ruhe für eine von mehreren Antworten entscheidet und V dann entsprechend zeitverzögert eine hochemotionale Antwort abgibt, ist das immer ein kleiner disconnect. (Ich habe es übrigens auf Deutsch gespielt, bezweifel aber, dass das ein Problem der Synchro ist; die Sätze sind darauf ausgerichtet, genau so gesprochen zu werden.)

- Viele Antwortauswahlen wirken sich kaum bis gar nicht aus, andere aber ganz erheblich. Das ist besonders ärgerlich, wenn ausgerechnet bei dem maßgeblichen Dialog alle Auswahlmöglichkeiten unbefriedigend sind und man das kleinste Übel wählt, die Geschichte dadurch aber im Widerspruch zu allen vorhergehenden Entscheidungen endet.

- Man kann sich leider auch Handlungsstränge komplett abschneiden, ohne es überhaupt zu merken... mit der Folge, dass die Story unvollständig wirkt. Es gibt im Spiel eine Situation mit einer Handlungsalternative (kein Multiple-Choice-Dialog), die man sehr leicht übersehen kann, woraufhin einem plötzlich ein Charakter zuruft, dass man sein ursprüngliches Ziel nun vergessen soll. Das glaubt man in dem Moment schlichtweg nicht, so abrupt wie das geschieht. Man wartet noch auf die große Überraschung, die aber ausbleibt. Wenn der Abspann dann läuft, bleibt das seltsame Gefühl, die Story sei nicht zu Ende geschrieben. In dem Punkt war Heavy Rain richtig gut; man konnte zwar Handlungsstränge kappen, aber das Spiel hat hinreichend darauf aufmerksam gemacht, wann und wie das passiert. QTE verkackt – Charakter tot – Handlungsstrang weg. Man wusste sofort, warum der Handlungsstrang abgebrochen ist und konnte (im Interesse einer stimmigen Geschichte) problemlos einen früheren Spielstand laden.

Was bleibt, ist ein Multiple-Choice-System, das kaum Mehrwert, aber alle erdenklichen Nachteile hat. Mir ist vollkommen schleierhaft, wie man in Side- und Hauptquest so viele wirklich tolle Ideen reinpacken kann und dann so fantasie- und planlos ein Multiple-Choice-System implementiert.

Das zweite Problem der Story steckt im Pacing. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Hauptstory ist klasse (die vorgenannten Punkte mal ausgeklammert), die Sidequests sind ebenfalls klasse. Aber beides passt null zusammen. Mich stört hier nicht einmal, dass die Hauptstory recht eilbedürftig ist und man zwischenzeitlich gefühlt 50 Sidequests erledigt, das Problem haben andere OW-Spiele auch. Es ist vielmehr, dass die Hauptstory mit dem Auftauchen von Johnny Silverhand ein völlig anderes Tempo als die Sidequests aufimmt, sie fährt von da an mit Höchstgeschwindigkeit, geht eigentlich nur vom Gas runter, um danach wieder beschleunigen zu können. Silverhand, der alte Adrenalinjunkie, wirkt fast wie eine Personifizierung der Hauptstory, so viel Drive steckt da drin. Innerhalb dieser Mainstory sind die Sidequests mit Witcher 3-Erzähltempo eine einzige Bremse, zerstören den ganzen Flow. Ich hab recht viele gemacht, weil ich halt wenig verpassen wollte (und sie ja auch richtig, richtig gut sind) und Sorge hatte, dass die Sidequests möglicherweise Auswirkungen auf die Hauptstory haben (bei einer Questline ist das wohl auch tatsächlich der Fall ).  Aber ich würde definitiv nicht nochmal so spielen. Wenn ich mir das irgendwann nochmal geben sollte, dann spiel ich Haupt- und Sidequests völlig getrennt voneinander (sofern das überhaupt möglich, man kriegt ja bei einigen Questlines die Mitteilung, man solle erstmal was anderes machen, bis es weitergeht).

Witzigerweise hat Witcher 3 für genau das Problem gleich zwei Lösungsmöglichkeiten aufgezeigt. In W3 geht die Hauptstory mit Ciri über weite Strecken kaum vorwärts, da heißt es dann "mach erst einmal fünf Aufgaben für A, damit er dir verrät, wo B sich versteckt, der dir nach 10 weiteren Aufgaben erzählt, wo sich möglicherweise C aufhält, der Ciri vor 10 Monaten gesehen haben könnte". Relativ am Ende, meiner Erinnerung nach kurz vor dem Point of no return, nimmt die Hauptstory dann richtig Fahrt auf, also zu einem Zeitpunkt, an dem man den größten Teil der Sidequests schon erledigt hat und sich voll auf die Hauptquestline konzentrieren kann.

Der zweite Ansatz ist der von Hearts of Stone, also eine straffe Geschichte einfach via DLC nachzuschieben.

Cyberpunk verzichtet auf beide Ansätze und mischt stattdessen Haupt- und Sidequests, ohne zu berücksichtigen, inwieweit sie zusammenpassen.

Abschließendes Urteil zur Story? Keine Ahnung, sie hat ganz viele großartige Momente und ich will sie als Erfahrung auf keinen Fall missen. Aber sie ist wesentlich weniger als sie letztlich sein könnte und gerade auf den gesamten Multiple-Choice-Kram hätte ich am liebsten komplett verzichtet.


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