Thema:
+1!! nt flat
Autor: laubkerl
Datum:14.01.18 19:16
Antwort auf:Re:Sehr interessanter Artikel von Atlan

>>Kunstkritik ohne eine kritische Betrachtung der sozio-politischen Dimension ist unvollständig
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>Was du hier so als Fakt darstellst, ist seit Jahrzehnten eine hochkontroverse Thematik in der Kunstwissenschaft, die angesichts aktueller Entwicklungen immer stärker wird. Besonders wenn - wie auch im aktuellen Fall mal wieder - die "sozio-ökonomische Dimension" in erster Linie vordergründig eine boulevardesk personalisierte ist.
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>Vielmehr wird es sogar (und das sehe ich ähnlich) mehrheitlich mit großer Sorge betrachtet, dass unsere Gesellschaft zunehmend unfähig wird, zwischen Kunstwerk/Künstler einerseits und der dahinterstehenden Privatperson (die eigentlich NIEMANDEN öffentlich etwas angeht! Nicht einmal bei Verbrechen) andererseits zu unterscheiden. Alles wird personalisiert und verkommt auf diese Weise zur voyeuristischen Yellow-Press-Gerüchteküche, der Boulevard wird zum einflussreichsten Kritiker und immer öfter sogar zum Richter und Henker.
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>Ein Kunstwerk ist nur noch dann wertvoll und darf ohne schlechtes Gewissen genossen werden, wenn die dahinterstehende Privatperson (die eigentlich niemals mit der künstlichen Figur des sich inszenierenden Künstlers identisch ist und somit für Beurteilung von Werk und Inszenierung keine Relevanz besitzt) eine reine Weste hat?
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>Strickt zu Ende gedacht, führte uns das in eine ziemlich missliche Lage: Fast alle Künstler und Denker der vergangenen Jahrhunderte sind nach heutigen Maßstäben ziemlich miese Schweine. Man halte sich beispielsweise mal vor Augen, was die größten Denker der Geschichte so von Frauen gehalten, ja sogar offen in ihren Werken propagiert haben... (von Kant bis Freud)
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>Wenn man nicht fähig ist, zwischen Werk und Privatperson zu unterscheiden, landet man schnell an einem Punkt, wo man alles verbrennen muss, was nicht von jemandem geschaffen wurde, der in seinen privaten Handlungen dem aktuellen Zeitgeist und Wertekanon entspricht – der ironischerweise in 50 Jahren aber wahrscheinlich auch schon wieder als barbarisch betrachtet werden wird. Da bleibt dann am Ende nicht viel übrig.
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>Und wenn man sich dann noch mal vor Augen hält, dass Genie und Wahnsinn fast immer Hand in Hand gehen, dass eine der größten künstlerischen Triebfedern seit jeher das Kaputte, Abnormale, Zerbrochene, der Abgrund im Menschen ist, Künstler und Intellektuelle nicht ohne Grund privat fast immer soziopathische "Arschlöscher" waren und sind, das eine häufig (leider) das andere bedingt...
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>Eine Kunstszene, deren Werke nur noch dann Beachtung finden, wenn sie von psychisch gefestigten, allen moralischen Ansprüchen genügenden, perfekten Role-Models mit weißer Weste stammen, wäre keine mehr.
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>Andererseits würde es aber auch gut in die neoliberale, postdemokratische Zukunft passen, in die wir uns bewegen. Täglich tobt online die moralische Entrüstung, der digitale Shitstorm der Empörungsmaschinerie angesichts der privaten Verfehlungen von Promis am anderen Ende der Welt, lullt uns auf diese Weise in wohligem Rechtschaffenheitsgefühl ein, täuscht uns mit alleinigem Fokus auf Identitätspolitik moralischen Aktivismus vor und lenkt davon ab, dass in unserer direkten Nachbarschaft zunehmend Menschen im Müll wühlen (unabhängig von Geschlecht, Sexualität, Religion, etc.) und der gesamte Planet wegen unseres Freizeit-Technik-Konsums kollabiert - mit deren Hilfe wir als Nutznießer dieses Systems dann wieder vom bequemen Sofa aus unsere Empörung in die Netzwelt hacken und das Gefühl haben, auf der richtigen Seite zu stehen. Und guten Gewissens nichts wirklich Grundlegendes ändern müssen.
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>Passend dazu von einem Kunsthistoriker und Kulturwissenschaftler:
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>[https://www.nzz.ch/meinung/werte-muss-man-sich-leisten-koennen-der-neue-moraladel-ld.1332906]


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