Thema:
[PC] Undertale flat
Autor: Andy1977
Datum:15.10.15 18:24

Undertale sieht aus wie der letzte Rotz. Ehrlich: Die Grafik ist auf Super Nintendo
Technik getrimmt und hält farbtechnisch gerade mal NES-Niveau. Die Spielfigur könnte von
einem Dreijährigen gezeichnet sein, die Perspektiven stimmen hinten und vorne nicht und
ein Großteil der Gegner ist in Schwarz-Weiß gehalten sowie mies animiert

Eine piepsige Musik und eine 08/15-Story machen es auch nicht besser: Die Monster haben
den Krieg gegen die Menschheit verloren und wurden in den Untergrund verbannt. Blöd nur,
wenn es immer noch Zugänge gibt, die nur in eine Richtung funktionieren. So stolpert ihr
bei einer Erkundungstour in ein Loch und findet euch plötzlich wieder in einer Welt voller
Monster und Mutanten.

Doch keine Bange: Undertale möchte euch nicht stressen. Ihr begegnet einer freundlichen
Kreatur namens Toriel, die euch vor den bösen Angriffen einer heimtückischen Blume (!)
beschützt, danach regelrecht an die Hand nimmt und durch die ersten Rätsel geleitet. Die
bestehen eh nur aus simplen Knöpfchengedrücke, aus Angst, dass ihr was falsch machen
könntet.

Noch putziger wird es, wenn sie euch zum Dummy geleitet: An ihr sollt ihr nicht das
Kämpfen üben sondern das Agieren. Ihr könnt den Dummy nämlich nicht nur angreifen, sondern
auch mit ihm... reden.

Kurz darauf stoßt ihr auf das nächste Monster, einen mutierten Frosch namens Froggit. Auch
den könnt ihr klassisch wie in jedem anderen rundenbasierenden Rollenspiel schnetzeln.
Oder... ihr macht ihm... ein Kompliment! Das versteht Froggit zwar nicht, fühlt sich aber
trotzdem geschmeichelt, weshalb er nicht mehr weiterkämpfen möchte. Konsequenterweise
verschont ihr sein Leben und zieht friedlich von dannen.

Das geht nun das gesamte Spiel so: Jedes Monster lässt sich auf friedliche Weise umstimmen
– es dauert halt nur manchmal, bis ihr die richtige Methode herausgefunden habt.  Manchmal
reicht eine Umarmung, manchmal muss man sein Gegenüber etwas ärgern. Größere Endgegner
verlangen viel Geduld, bis ihr sie mürbe gemacht habt. Die glauben erst nach zwanzig,
dreißig Zügen, dass ihr sie wirklich nicht schlagen möchtet.

Das Problem: Bis es zum friedlichen Konsens kommt, müsst ihr erst mal deren Angriffe
abwehren. Dafür steuert ihr eure Seele in Form eines roten Herzens. Die Spielfläche ist
nicht mehr als ein Quadrat oder Rechteck, in dem euch die gegnerischen Attacken um die
Ohren fliegen. Manchmal sind es kleine Kugeln, manchmal ähneln sie Speeren und manchmal
hüpft ein kleiner, putziger Wau-Wau durch die Gegend.

Werdet ihr getroffen, dann erleidet ihr Schaden. Das Ausweichen mutet zunächst genauso
simpel an wie die Grafik, wird aber zunehmend biestiger, erinnert in späteren Gefechten an
Bullethell-Shoot'em Ups und birgt vor allem erstaunlich viel Abwechslung. Denn auch hier
überrascht euch jeder Gegner mit einer anderen Taktik und neuen Raffinessen. Bei den
Endbossen müsst ihr obendrein mit veränderten Spielregeln rechnen.

Nehmen wir mal Papyrus, ein durchgeknalltes Skelett, das unbedingt General werden möchte.
Also wartet er auf den nächsten Mensch, der ins Reich der Monster fällt - ergo euch.
Während sein Bruder Sans einen platten Witz nach dem anderen reist, ist Papyrus ein
sichtlich fehlgeleiteter Bösewicht. Beim unvermeidlichen Gefecht sorgt er  dafür, dass ihr
eure Seele nicht mehr frei bewegen dürft. Sie lässt sich nur noch am Boden steuern,
während ihr per Knopfdruck seinen Attacken ausweicht.

Habt ihr auch ihn mürbe gemacht, dann wird er euer Freund und schlägt euch ein... Date
vor! Spätestens hier entfaltet sich der Humor von Undertale, der irgendwo grotesk und
irgendwo naiv-putzig rüberkommt. Viele vergleichen Undertale deshalb mit
Mother/Earthbound, wobei mir zu meiner Schande jegliche Erfahrung mit der Kultserie fehlt.

Von durchgeknallten Robotern über heroische Monsterritter bis zu König Asgore stolpert ihr
durch eine immer faszinierender erscheinende Welt, die ihre eigenen Regeln besitzt und sie
ständig über den Haufen wirft. Nichts ist so wie es auf den ersten Blick erscheint – und
die einzige Konstante seid letztlich ihr selbst, wenn ihr voll entschlossen den
friedlichen Weg beibehaltet.

So entsteht eine enge Bindung zwischen eurem Charakter und den Monstern, was das Finale
umso dramatischer erscheinen lässt. Was dort passiert, werde ich natürlich nicht verraten.
Nur so viel: Ja, es gibt eine Möglichkeit die Welt der Monster zu verlassen. Aber der
Preis ist hoch. Und dann ist da natürlich noch diese heimtückische Blume, die euch am
Anfang begegnet ist und aufgrund dessen Undertale verschiedene Meta-Ebenen durchläuft.

In den gut acht Stunden, die ihr für einen normalen Durchlauf benötigt, wird die Grafik
immer mehr zur Nebensache. Dafür entwickelt sich die Story dank der brillant geschriebenen
Dialoge und den herzallerliebsten Charakteren zu einem ungewöhnlichen wie einmaligen
Erlebnis. Getoppt wird das nur noch durch die Musik, die genau wie das Spiel selbst von
Entwickler Toby Fox stammt. Auch hier gaukelt er zunächst mit piepsigen Tönen und
langweiligen Ambientstücken ein mieses Werk vor, nur um euch bei den Kampfthemen immer
wieder aufs Neue zu begeistern.

Plötzlich tönt da nicht nur technisch altkluge Chiptunemukke aus dem Lautsprecher, sondern
ein fetziges Schlagzeug, ein leidenschaftliches Klavier oder ein kleines virtuelles
Orchester. Die Synthiinstrumente sind teilweise unverschämt gut gewählt und aufeinander
abgestimmt. All das gipfelt im Kampfthema gegen König Asgore: Spätestens da sitzt keiner
mehr ruhig auf seinem Stuhl.

Wenn ihr Undertale durchgespielt habt, dann gibt es ein paar Tipps, wie ihr eure
friedfertige Mission übertreffen und das ultimative Happy-End erreichen könnt. Und wenn
ihr auch das geschafft habt, dann denkt ihr euch. „Hm... ich kann die Gegner ja trotz
alledem ganz normal angreifen. Was wäre, wenn ich das mal probiere?“.

Nur so viel: Es gibt drei verschiedene Enden und zwei völlig unterschiedliche Wege, wie
ihr Undertale spielen könnt. Der zweite Weg erfordert noch mehr Entschlossenheit und
gipfelt in einem Endkampf, der in Sachen Schwierigkeitsgrad Dark Souls Veteranen das
Fürchten lehrt. Das darauffolgende Ende ist tragisch, brillant, meisterhaft und
unglaublich schonungslos. Es gibt in der Tat Spieler, die den einen Weg von Undertale
geschafft haben und auf Andeutungen hin, was beim zweiten passieren würde, diesen nie und
nimmer bestreiten wollen. Warum? Weil sie mit den Konsequenzen nicht leben könnten.

Kurz: Undertale ist ein Meisterwerk, ohne wenn und aber. Es durchlebt innerhalb von
wenigen Stunden eine ungeahnte, noch nie da gewesene Spielspaßevolution. Und es ist der
endgültige (!) Beweis, dass Grafik einen Scheiß bedeutet.

Anders ausgedrückt: Undertale ist ein sehr ernst zu nehmender Game of the Year Kandidat,
der zurecht derzeit einen Metacritic-Durschnitt von 94 (!) Punkten hat.


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