Thema:
2024 flat
Autor: Kola
Datum:03.01.25 11:43
Antwort auf:Bücher Thread #6 von Matze

Mal eine Bestenauswahl einiger Bücher, die ich in 2024 gelesen habe. Ich habe hier schon einige gute Tipps mitgenommen, danke dafür. Vielleicht ist nun das ein oder andere Exemplar hier für jemanden von Interesse. Ich glaube allerdings, dass viele Sachen etwas speziell sind. Ich lasse aber mal ein paar Sätze zum jeweiligen Thema fallen.

A. Weisman - The World Without Us
Wie sähe unsere Welt aus, wenn man mit einem Fingerschnippen die Menschheit aus der Gleichung nehmen würde? Weisman geht die Sache sowohl eher abstrakt als auch ganz konkret an. Unsere Agrarböden wären wohl noch jahrtausendelang verseucht, die Ozeane voller Plastik; allein die Luft wäre wohl wieder recht sauber. Ein objektiver Beobachter – seien es Aliens oder andere intelligente Wesen, die die Evolution nach uns hervorbringt – hätten womöglich auf Selbstmord getippt. Das Buch ist von 2008. Neue Erkenntnisse zu Ewigen Chemikalien (PFAS) und andere lustige Entwicklungen sind hier noch nicht einmal verbaut.
Am „unterhaltsamsten“ fand ich die konkreten Beispiele zum Zustand von bekannten Errungenschaften der Menschheit: Wie sieht NYC in 5, 10 oder 50 Jahren aus? Was ist mit dem Panamakanal, wachsen die Kontinente wieder zusammen? Was geschieht mit dem Eurotunnel oder den Pyramiden? Eine handfeste Vorschau bieten auch einige Entwicklungen, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte, zum Beispiel die verfallene Geisterstadt Varosia auf Zypern: [https://de.wikipedia.org/wiki/Varosia]

Koeppen - Tauben im Gras
Ein Tag in München wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs unter amerikanischer Besatzung.  Was mir bei Joyce (Ulysses) nicht gefiel, also dieses episodenhafte Nacherzählen eines Tages, funktioniert hier für mich wunderbar. Ich hatte von dem Buch eigentlich nur erfahren, weil es eine Kontroverse dazu gab (die ich so nicht wirklich nachvollziehen kann; will aber das Fass nicht aufmachen) und so landete es auf dem Stapel.

Mangold – Die orange Pille
Die Kryptoscheisse in meiner Wallet habe ich damals nur aus FOMO-Gründen gekauft. Um so überraschter war ich, dass Ijoma Mangold in der Zeit immer mal wieder einen recht positiven, begeisterten Artikel zum Bitcoin beigesteuert hat. Das ist so verwunderlich, weil er auch mal stellvertretender Leiter des Feuilletons war, die in meiner Wahrnehmung gegen alles technische eher bitchig sind. Ich halte einige Thesen zwar für sehr angreifbar und er befasst sich mit zwei sehr kritischen Themen fast gar nicht, aber andere Punkte halte ich für sehr valide und das hat meine Sicht auf den Bitcoin doch in Teilen revidiert.

Haft – Wildnis
Wenn ich an Wildnis dachte, dann hatte ich immer diese großen Buchenwälder – wie sie es etwa noch in der Nähe der Müritzer Seenplatte (Serrahner Buchenurwälder) gibt – vor Augen. Oder die Wälder in der Białowieża oder in den Karpaten, in die ich genau deswegen mal gereist bin. Anscheinend setzt sich langsam immer mehr die These durch (Wikipedia ist da kritischer), dass große Teile Eurasiens aus weitflächigen Offenlandschaften bestanden, die von Megaherbivoren (Riesenhirsche, Elefanten, Nashörner, alle sind sie mal in Mitteleuropa rumgelaufen) kleingehalten wurden. Landschaften die biodiverser sind und mehr CO2 speichern als Wälder.

R. Weisman - Flight Paths: How a Passionate and Quirky Group of Pioneering Scientists Solved the Mystery of Bird Migration
Je älter ich werde, desto mehr interessiere ich mich für Vögel und weniger fürs…Basketballspielen. Flight Paths beschreibt die Methoden, mit denen Ornithologen die Migration von Vögeln erforschen. Aristoteles etwa spekulierte, die gefiederten Freunde würden in Winterschlaf fallen oder sich in Fledermäuse verwandeln. Der englische Wissenschaftler Charles Morton, ein ganz kluger Kopf, argumentierte, die sie  flögen alle gemeinsam im Winter zum Mond und dann im Frühling wieder zurück. Und der berühmte Carl von Linné, der Vater der Taxonomie, dachte, Schwalben überwinterten am Grund von Gewässern. Erst der sogenannte „Pfeilstorch“ änderte alles: [https://de.m.wikipedia.org/wiki/Pfeilstorch]. 1822 schoss ein Jäger bei Rostock einen Storch, der einen Pfeil im Körper stecken hatte, der nur von afrikanischen Jägern stammen konnte. Und so begann die Erforschung der Flugrouten. Die eingesetzten technischen Mittel enden dabei nicht mit Beringungen, Radiotransmittern oder extrem leichten GPS-Sendern. Das ist alles lowtech im Vergleich zu dem, was heute genutzt wird: Etwa die Messung von Deuterium-Atomen im Gefieder, mit denen herausgefunden werden kann, wo das Tier gerade herkommt.

Kingsland - Siddhartha's Brain: Unlocking the Ancient Science of Enlightenment
Kingsland stellt die “empirischen“ Erkenntnisse der Meditation denen der modernen Hirnforschung gegenüber. Mir fällt partout kein Buch ein, dass die aktuelle Sachlage so detailliert und leicht lesbar zusammenfasst.

Illies – Zauber der Stille
Es gibt viele Bücher zu C.D. Friedrich. Die Auswahl war so groß, dass ich lange Zeit keine Lust hatte, eines davon auszuwählen. Ich habe dann einfach das neueste genommen, nachdem Die Zeit das neuen Buch von Illies besprochen hatte (es ist gerade Jubiläumsjahr). Er baut die Biographie nicht chronologisch auf, sondern gliedert sie nach den großen Themen von CDFs Bildern (Feuer, Wasser etc.). Das funktioniert ganz gut und ist weniger verwirrend als gedacht. Wenn man dann noch einen Bildband (ich habe den günstigen von TASCHEN) hinzuzieht, reicht das für einen guten Überblick. Fun Fact: Es gibt einen IC, der die Strecke DD, B, HH abfährt. Man kann mit einem Ticket die wichtigsten Bilder von CDF an einem Tag sehen, wenn man es darauf anlegt.

Brunnhölzl - Das Herzinfarktsutra
Ok, das ist nun sehr speziell. Es geht um das Herzsutra, einen der wichtigsten Texte des Mahayana-Kanons und einer der wenigen Texte, die im Zen eine Rolle spielen. Form ist Leere und Leere ist Form usw. Das Sutra ist extrem kurz, 260 Zeichen in der chinesischen Übersetzung und in vielen Teilen echt unverständlich - nicht nur für Westler. Brunnhölzl arbeitet das Sutra wie in einem juristischen BGB-Kommentar einmal durch und es ist echt unglaublich, was man aus diesem kurzen Text alles ziehen kann. Ich glaube, jetzt habe ich so ziemlich jeden hier verloren.
Wenn man sich aber auch nur im Ansatz für den Zen-Buddhismus begeistern kann, dann empfehle ich das Werk unbedingt weiter. So etwas zu lesen ist wie aus einer anderen Welt, ein bisschen wie Sci-Fi.

Vonnegut – Slaughterhouse Five
Sci-Fi lese ich eigentlich immer noch am liebsten. Nachdem ich Anfang des Jahres endlich The Expanse durch hatte (die TV Serie bricht ja leider drei Bücher vor dem Ende ab), hatte ich noch Catch-22 und Slaughterhouse Five auf dem Stapel und habe mir Letzteres endlich gegönnt. Vonnegut verquickt hier autobiographische Kriegserlebnisse, unter anderem die Bombardierung Dresdens, mit Sci-Fi-Elementen, Sarkasmus, Zeitreisen etc. Ist definitiv ein Werk der amerikanischen Literatur, das man gelesen haben sollte.

Houellebecq – Vernichten
Das angeblich finale Werk. Ich glaube, wenn ich eines seiner Bücher empfehlen würde, dann wäre es dieses. Es ist aber natürlich keine spaßige Strandlektüre.

Rosling – Factfulness
Der Untergang kommt. Alles wird schlechter und schlechter. Nur geben die Fakten das nicht her. Es ist zwar nicht alles rosig, aber grundsätzlich wird es besser. Wenn man die Schnauze vom Pessimismus voll hat und einen wirklicheren Blick auf die Welt haben möchte, dann lest das Buch. Und macht vorher Roslings Test: [https://factfulnessquiz.com/] Ich habe den Test mehrere, teilweise sehr schlaue Leute durchführen lassen (allerdings wussten diese nichts von der Prämisse des Buchs, dann geht man anders an die Fragen heran) und fast keiner hatte mehr als 50% richtig. Dabei geht es wirklich um fundamentales Wissen, das hier abgefragt wird.

El-Mafaalani – Wozu Rassismus
Ein Standardwerk zur Thematik. Ziemlich komprimiert, aber absolut ausreichend, um sich einen Überblick zu verschaffen. Gibt es für EUR 4,50 inklusive Versand bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Diese Schriftenreihe des bpb ist ohnehin eine ziemliche Schatztruhe: [https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/?field_filter_thema=all&field_date_content=all&d=1]

Becker – Bronsteins Kinder
Straßenfund. Es ist mit „Jakob der Lügner“ wahrscheinlich eines der bekannteren Werke. Ich hab‘ es dann gleich mitgenommen und im Sommer in zwei längeren Sessions beendet, da es ziemlich fesselnd und sehr leicht verständlich geschrieben ist. Der Protagonist, der Sohn eines jüdischen KZ-Häftlings, entdeckt im abgelegenen Sommerhaus des Vaters, dass dieser und einige andere Ex-Häftlinge einen ehemaligen Wärter gefangen halten und foltern. Man kann sich nun denken, welche Welten hier aufeinanderprallen.

Platz 3:
Bernhard - Holzfällen

Ich hatte schon viel über Thomas Bernhard gelesen. Aber bislang nichts von ihm. Nun habe ich Holzfällen, das Kalkwerk und Wittgensteins Neffe fast back-to-back gelesen und bin sehr angetan. Er ist gemein, niederträchtig, zynisch und dabei ziemlich lustig. Mich interessiert die Wiener Society nicht, aber es ist eine Freude, dem gehässigen und mitunter entlarvenden, sich ständig überschlagenden Gerede von Bernhard zuzuhören (ich habe die Lesung von Holtzmann gehört, bei der man meint, Bernhard selbst erzählen zu hören, so stelle ich ihn mir zumindest vor). Ich weiß nichts zu Bernhards Leben, aber dass es hier autobiografisch zugeht und es sich wohl um Schlüsselromane handelt, liegt auf der Hand. Mir ist es aber ganz einerlei, wen er da immer wieder verunglimpft, die Sprache ist einfach eine Wucht. Ich glaube, man kann einen kurzen Absatz aus irgendeinem Werk nehmen und jeder der Bernhard mal gelesen hat, kann ihn zuordnen.

Platz 2:
Melville – Moby Dick

Ab und an lese ich doch einige der großen „Elefanten“ des 19. Jahrhunderts, also diese endlos langen Romane von Hugo, Dumas oder Cervantes. Den Don Quijote hatte ich gerade durch, da bemerkte ich erst, dass es noch einen zweiten ebenso langen Teil gibt. Da hatte ich lange Zeit erstmal wieder genug. Aber irgendwann habe ich mich doch dazu durchgerungen und habe den fetten Wal gewälzt: Und war ziemlich begeistert. Das Hörbuch ging über 30 Stunden und der dreitägige Showdown beginnt tatsächlich erst in den letzten 45 Minuten, davor „taucht“ der Wal nicht auf. Es ist aber in keiner Weise ein langweiliges Buch; mitunter sogar recht witzig geschrieben, etwa die Begegnung der Pequod bei den Crozet-Inseln mit einem deutschen Walfangschiff aus Bremen, bei dem die Deutschen natürlich nicht gut davonkommen. Insgesamt ist Melville glaube ich eine gute Seele gewesen, seine Ansichten und Bemerkungen zu den „Wilden“ oder auch anderen Personen sind für diese Zeit (1851) fast progressiv. Ich kenne aber auch nur das Buch. Moby Dick hat zwar einige Längen, etwa wenn über die Taxonomie der Wale oder die Ausrüstung der Walfänger philosophiert wird. In dem Film „The Whale“ liest Brandon Fraser immer und immer wieder den Beginn eines Essays, in dem die Autorin (seine Tochter) die Ansicht vertritt, diese Passagen zeigten nur, der Autor wolle von seiner sad story ablenken. Das hat mich echt getroffen, weil es so auf den Punkt ist. Insgesamt ein empfehlenswertes Buch. Auch weil der Wal am Ende alles und jeden versenkt – mit Ausnahme des Erzählers.

Platz 1:
Kerouac – The Dharma Bums

Ein Klassiker der Beat-Literatur. Ich hatte bislang nur „On the Road“ und Sachen von Ginsburg gelesen, obwohl ich fast alles, was die Beat-Gen so verfasst hatte, sehr gerne las. Ich weiß nicht, wie dieses Buch durchgerutscht ist und wieso ich fast zwanzig Jahre nichts mehr aus der Richtung gelesen habe. The Dharma Bums ist Zen Travel Literature vom Feinsten. Mir ging das Buch unheimlich nahe, auch da ich jede Zen-Anekdote, jedes Haiku, jede kulturgeschichtliche Anspielung kenne und mir auch die Kanji-Spielereien klar sind. Das Buch hat mich so begeistert, es ist so gelehrt und gleichzeitig so leicht und naiv geschrieben, dass ich sogar noch die deutsche Fassung für 24 Euro hinterhergeschossen habe, da ich unbedingt wissen wollte, wie manche sprachliche Spielerei übersetzt wurde. Falls sich jemand auch nur im Ansatz für die obigen Themen begeistern kann, so lest das Buch. Es ist gerade 2022 neu übersetzt worden und heißt „Die Dharmajäger“ (die Übersetzung davor: „Gammler, Zen und hohe Berge“, beides irgendwie scheisse). Die englische Fassung habe ich hier kostenlos gehört:  [https://www.youtube.com/watch?v=c2ltxfwftEw&list=PLJt5ep_qA9v2fd5BIcRoxIv14cn1NqLF_&index=1]
The „Book of Haikus“ und „Big Sur“ habe ich mir gleich als nächstes besorgt, damit es nicht wieder zwanzig Jahre werden.


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