Thema:
Plan für ein KI-Portfolio flat
Autor: Alopex
Datum:09.10.24 11:35
Antwort auf:Infinitys kleiner Aktienthread, zünde die 3. Stufe von sidekick-x-

Moin,

dieser Sub-Thread ist für alle, die Lust haben, bei einem kleinen Gedankenspiel zu einem neuartigen, KI-gestützen Portfolio mitzudenken.

Background: Ich habe gerade zwei Jahre Studium Data Science, Statistik und Machine Learning hinter mir. Ich bin nicht der Oberchecker, aber alles, was ich weiter unten vorschlage, traue ich mir auch zu zu entwickeln (technisch).

Einstiegsankedote: Vor zwei Jahren saß ich mal bei einem schicken Abendessen länger neben einem der respektiertesten Fondsmanager in Deutschland, der auch als einer der ersten galt, die einen KI-Fond aufgelegt haben. Weil der nicht besonders performt (und irre Kosten hat), habe ich ihn mal gefragt, wie der so funktioniert, und er hat mir dann (wir kennen uns auch so ein bisschen) ein zwar nicht geheimes, aber doch auch nicht öffentliches kurzes Paper überlassen, in dem der Ansatz skizziert wird. Und ich hatte dann die eine oder andere Idee, wie man das besser machen könnte.

Disclaimer: Es ist extrem unwahrscheinlich, dass ich der erste bin, der auf diese Ideen kommt; vermutlich sind sie vielfach durchgenudelt, und funktionieren, oder auch nicht, oder sind nicht in einem Publikumsprodukt verfügbar, oder wie auch immer. Ich würde sie aber gerne mal mit euch durchspielen. Mir ist auch klar, dass vergangene Kursentwicklungen kein sicherer Indikator für die Zukunft sind, dass der Markt volatil ist, dass Kursvorhersagen tendenziell unsicher bis unmöglich sind, und ich kenne auch Eugene Fama und seine Thesen. Dass es die Warren Buffets dieser Welt gibt, kann eine schlaue Anlagestrategie sein, es ist aber auch gewissermaßen statistisch notwendig - irgendjemand muss ja viel Erfolg haben, Gauss'sche Normalverteilung.

Ich hab das Ganze auch mal mit ChatGPT durchdiskutiert, und die Antworten sind halbwegs erwartbar: Ja, excellent idea, sollte funktionieren, aber Vorsicht dies und Vorsicht das. Interessant: ChatGPT behauptet - muss ja nicht stimmen - dass es noch keine Lösung, weder als Platform, noch als Fond noch als Github Repo gebe, die das alles integriert. Naja, vermutlich hat es nur keine Ahnung, und das Thema ist längst gelöst.

Einschränkungen: Lasst uns mal das Thema Steuern ignorieren - natürlich zahle ich auf Gewinne 25% (als Privatperson), aber das ist für die reine Kursentwicklung ja egal, und auch 75% vom Gewinn sind ja was. Lasst uns mal auch für den Beginn das Thema Trading-Kosten ignorieren; für eine reale Umsetzung ist das natürlich super-relevant, aber es gibt ja Plattformen, bei denen man sehr günstig/umsonst/per Flatrate traden kann.

Also, entwickeln wir das mal Schritt für Schritt. Das Ziel ist ein Portfolio, dass deutlich überperformt.



1)
Momentan raten ja alle zu ETF, aus den bekannten Gründen. Zwangsläufig hat so ein ETF, egal welcher Index und wieviele Aktien, solche Aktien die überperformen und solche die unterperformen, sogar dann, wenn alle gewinnen (Mehr Wertzuwachs als der Durschnitt, z.B. 5%, und weniger.) Natürlich ist das nur der Rückblick, und Rückblick <> Ausblick, aber es ist ja auch nicht so, dass die vergangene Performance gar keine Aussagekraft für die Zukunft hat.
Diese Unterscheidung in Über- und Unterperformer könnte man algorithmisch verschiedentlich fassen:
a) simpel: einfach Einzelperformance und Durchschnitt in zu definierenden Zeitfenstern vergleichen
b) fortgeschritten: Zeitreihenanalysen mit statistischen Modellen wie SARIMA machen (ich gehe mal nicht im Detail darauf ein, was das genau bedeutet, zusammengefasst einfach eine komplexere Analyse, die auch externe Regressoren berücksichtigt)
c) fancy: aus den historischen Entwicklungen mittels neuronalen Netzwerken wie LSTMs Vorhersagen machen lassen

Offensichtlich sind Vorhersagen immer nur von begrenzter Wahrscheinlichkeit, aber ganz simpel gesagt: Es müsste doch möglich sein, aus einem Index, z.B. SP500, zumindest grob die guten und die schlechten Aktien in zwei Körbchen zu packen. Es muss ja nicht 100% stimmen, nur im Durchschnitt über längere Zeit.
Beispiel: Ich war mir sicher, dass der Bayer-Aktienkurs ab dem Moment, wo sie Monsanto kaufen, abstürzen wird. Und so kam es. Der Dax ex Bayer muss also zwangsläufig überperformen. Das war zwar jetzt eine qualitative Analyse, und keine quantitative, aber auch bei letzterer wäre Bayer schnell aus unserem Portfolio geflogen.

Fiktives Ergebnis: Wir haben den SP500 als Basis genommen, und nach unserer Analyse bleiben noch 200 Aktien, die deutlich überperformen.



2)
Im Prinzip kann man jetzt beliebige Kennzahlen und Indikatoren irgendwie verwursten, aber nehmen wir mal wiederum einen, der eine überdurschnittliche Wahrscheinlichkeit haben sollte, hilfreich zu sein:
Wie werten für unsere 200 Winner Analystenempfehlungen aus: buy, hold, sell.
Im einfachsten Modell behalten wir die buy- und hold-Aktien.
Theoretisch haben wir jetzt eine Menge qualitative Analyse - die die Analysten für uns gemacht haben - in unser Modell inkorporiert, wenn auch abstrahiert.
Wie erwähnt, man könnte den Prozess mit weiteren Indikatoren fortsetzen, z.B. das KGV einfliessen lassen, oder andere.
Letztlich korrelieren vmtl. auch viele dieser Indikatoren, und zwar teils sogar klar kausal. Es wäre eine Aufgabe der Feinabstimmung, hier entsprechend zu gewichten.

Nehmen wir mal an, unser Portfolio hätte jetzt noch 150 Aktien - 50 sind rausgeflogen, weil die Empfehlungen auf sell lauteten.



3)
Als vorerst letzten Schritt würde ich noch eine Sentiment-Analyse einfließen lassen, also eine automatisierte Textauswertung hinsichtlich Stimmung/Entdeckung bestimmter Keywords. Verschiedene Quellen wären denkbar, z.B. Jahresberichte (Quartalsberichte), die ja zumindest vom Prinzip her "ehrlich" sein müssen. Werden dort also Geschäftsrisiken erwähnt oder ist der Tenor verhalten, gibts einen negativen Flag. Klar, ein Unternehmen mit einem hohen Geschäftsrisiko kann auch besonders hohe Gewinnchancen haben, und nur "ungefährliche" Aktien bedeuten vielleicht auch nur mäßige Wertentwicklung.
Man könnte auch Finanzportale auswerten, oder r/wallstreetbets, etc. Sowas wird ja auch schon gemacht.

Nehmen wir an, würden so 50 Aktien mit einem eher negativen Tenor identifizieren, dann wäre unser Portfolio jetzt bei 100 Aktien.

Wie gesagt, man kann jetzt zahlreiche weitere Schritte hinzufügen. ChatGPT z.B. empfiehlt eine Sektoranalyse. Man könnte ESG-Kriterien anwenden. usw. usw.



4)
Bevor man jetzt seinen ganzen Sparstrumpf und Omas Notgroschen investiert, könnte man umfangreiches Backtesting betreiben: Wir nehmen die Daten von 2022 und davor, wählen unsere 100 Aktien, bauen ein simuliertes Portfolio, und checken die Performance im Jahr 2023. Wir könnten sowohl die Auswahlparameter variieren, wie auch schauen, welche Aktien, die nicht in unserem Portfolio waren, gut performt haben (und umgekehrt, Loser im Portfolio), und versuchen, das zu optimieren (unter Vermeidung von Overfitting, Tests dann z.B. k-fold-style)



5)
In hundert Aktien zu investieren, ist natürlich per se, wenn man das händisch macht, ein ziemlicher Aufwand. Da müsste man sich mal mit fortgeschrittenen Trading-Programmen beschäftigen, die das vereinfachen (ultimativ: komplett automatisieren). Basierend auf den Parametern bräuchte man ein Re-Balancing, man müsste also die Aktien im Portfolio regelmäßig anpassen. Monatlich? Quartalsweise?
Wobei, einmal im Monat z.B. 10 Aktien zu verkaufen und 10 zu kaufen wäre sogar händisch gut machbar.

Ein anderes praktisches Problem wäre, dass man relativ viel Kapital braucht, um halbwegs gleichgewichtet in 100 Aktien zu investieren. Wenn jede Aktie 100 Euro kosten würde, bäruchte man schon mal 10.000 €. Als in der Realität wohl mehr. Natürlich könnte man weiter reduzieren, z.B. auf 50, oder 20, aber irgendwann ist man dann im individuellen stockpicking und verliert die (erhofften) Vorteile des Durschnitts der Gewinner.

Übrigens, nur weil eine Aktie unterdurschnittlich performt kann sie ja dennoch Gewinn gemacht haben.
Vermutlich bedeutet dieser Ansatz auch, dass man neue Aktien tendenziell zu einem hohen (Höchst-?) Preis kauft, weil wir sie ja gerade aufnehmen, weil sie sich gut entwickeln. Also nix mit cost averaging und hidden stars.



6)
Man müsste diese Schritte auch nicht streng sequentiell aufbauen, sondern könnte die Reihenfolge variieren, oder alle unterschiedlich gewichtet einbeziehen.

Zusammengefasst:
- Beliebiger Index als Basis für ein Portfolio
- Performance im Vergleich zum Durchschnitt berechnen, Unterperformer entfernen (alle, bottom 10%, etc.)
- Analystenmeinungen ermitteln, sell-Empfehlungen entfernen
- Sentiment-Analysis, Aktien mit negativen Tenor entfernen



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Eigentlich müsste es doch möglich sein, damit ein Portfolio zu entwickeln, das deutlich besser performt als der Durchschnitt (des Vergleichsindexes).

Oder nicht?

Wenn ja, wird sowas irgendwo angeboten? Als Fond? Verbirgt sich sowas hinter diesen "smarten" Plattformen wie Scalable Capital, Liquid, und wie sie alle heissen? Wenn es so einfach wäre, wieso macht das dann nicht jeder Investementberater?
Oder macht das jeder, und ich bin nur so doof, das jetzt erst zu merken?

Und für die, die in Sachen KI nicht so firm sind: Die erwähnten Techniken sind alle ziemlich Standard (mittlerweile), dafür gibt es fertige (Python) Libraries, bzw. man kann das bei den großen Cloudanbietern wie AWS als Service buchen (z.B. sentiment analysis). Da muss man nichts neu erfinden. Die Herausforderungen wären eher: Die nötigen Daten sinnvoll und automatisiert zusammentragen (vmtl. mühselig), die verschiedenen Analyseschritte zu einem Workflow zu vereinen (nicht so schwer), und ggf. das Trading zu automatisieren (kenne ich mich nicht aus, geht sicher).

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Risiko/Einschränkungen: Wunder gibt es nicht, und ich bin mir völlig im Klaren, dass das beschriebene Portfolio mindestens genauso risikobehaftet ist wie ein normaler ETF, bzw. Risiken auch verstärkt: Im Moment würde es wohl den Tech-Fokus im Portfolio noch vergrößern, und würde auch Schwankungen oder Abstürze in dem Bereich noch stärker mitmachen. Tendenziell ist es einseitiger als ein ETF, und hat folglich mehr Klumpenrisiko; dessen Kompositionsprinzip und Erfolgrezept ist ja gerade die breite Streuung. Natürlich reagiert es auch nicht besonders gut auf Unvorhergesehenes und externe Schocks, aber welches Portfolio mit eine hohen Rendte tut das schon.

Es ist auch kein Ansatz der, anders als ETF, für die große Breite funktioniert. Wenn alle nur noch die Gewinner kaufen, gerät das System halbwegs bald aus dem Gleichgewicht.
Man könnte daran auch fundamentalere Kritik festmachen: Z.B. könnten Unternehmen mit moderatem, stetigem Wachstum die gesünderen, nachhaltigeren, bessere Unternehmen sein, die durch so ein System geschädigt werden; dem Kant'schen Imperativ wird man mit diesem Portfolio vermutlich nicht gerecht. Aber das ist nochmal eine andere Diskussion...


Wie auch immer, freue mich auf Input.

Grüße,
Alx


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