Thema:
Das beste was ich die letzte Zeit darueber gelesen habe. flat
Autor: Headhunter
Datum:27.05.23 00:40
Antwort auf:Russischer Angriff auf Ukraine #10 von Cerberus

ein Kommentar auf Twitter, der Teil meiner Twitterblase ist. Und ich finde, er trifft es genau auf den Punkt.

*schnipp*

Nach 15 Monaten der großangelegten russischen Invasion: Wo steht denn die ukrainische Gesellschaft gerade?

In einer Realität, in der man selbst tief im Hinterland in der Zeit nach Oktober 2022 höchstens ein paar Wochen Ruhe ab Mitte März hatte, bevor Ende April massive Luftangriffe wieder losgingen, in der jeder jemanden kennt, der verletzt oder gestorben ist, in der die Front zumindest mittel- bis langfristig eine realistische Perspektive für jeden gesunden Mann ist, in dieser Realität gibt es so wahnsinnig viele Zwischentöne, die über Standardfloskeln in die eine oder in die andere Richtung hinaus gehen. Das sind Zwischentöne, die viele Kollegen (kein Vorwurf!) meist nicht ganz verstehen, die für ein paar Wochen kommen und dann je nach Zeitpunkt "Das Leben im Hinterland ist wieder normal" oder "Die Menschen sind kriegsmüde" urteilen.

Wenn ich mir angesichts dieser Hintergründe eine steile These erlauben darf: Die ukrainische Gesellschaft hat einen Dauerzustand erreicht, in dem sie auch weitere 15, 25 oder 30 Monate aushalten kann. Das ist einerseits eine gute Nachricht, weil man vor allem Ausdauer braucht, um gegen einen Gegner wie Russland erfolgreich zu bestehen. Andererseits: An einer solchen Anpassung an Kriegsumstände ist nichts gut. Denn an schlaflose Nächste passt man sich mit der Zeit an, klar. Man würde einfach nicht überleben, wenn man auf jeden der bisher 756 Luftalarme hier in Kyjiw zu emotional reagieren würde. Aber ich beobachte riesige mentale Probleme bei fast allen Menschen, die ich gut kenne, ob sie denen überhaupt bewusst sind oder nicht. Und gerade bei den Männern ist es natürlich so, dass es Leute gibt, die es bereits akzeptiert haben, dass realistisch betrachtet sehr viele irgendwann dran sein werden - und Menschen, die immer noch quasi in denial sind. Es ist alles je nach Einzelfall extrem unterschiedlich. Klar ist jedoch: Psychologische Folgen bei Erwachsenen und explizit auch noch bei Kindern (Covid+Krieg...) werden zum Riesenproblem der Nachkriegszeit.

Unter diesen Umständen brauchen die Menschen dringend positive Emotionen. Das führt zu vielen Scherzen und Memes auf Social Media bei Ereignissen wie die Kreml-Drohne oder der jüngste Belgorod-Vorfall. Das muss man aber von außen betrachtet nicht überschätzen. Im realen Leben erlebe ich überwiegend eine Gesellschaft, die schon mit gewissem Optimismus auf die kommende Gegenoffensive schaut, aber eigentlich in diesem Bezug sehr bodenständig ist. Die Illusionen, dass dieser Krieg bald vorbei sein könnte, sie existierten lange, sind aber endgültig weg. Viel zu optimistische Prognosen, die manchmal im Fernsehen vorkommen, werden vom Großteil eher ignoriert, was noch Ende des letzten Jahres etwas anders war. Man traut den ukrainischen Streitkräften vieles zu, glaubt aber nicht an Wunder. Und: Diskussionen zur Gegenoffensive sind generell deutlich weniger hysterisch als oft in Deutschland oder woanders im Westen.

Ihr werdet vor Ort in der Ukraine auf viele Geschichten Treffen, die dieser Darstellung widersprechen. Das ist aber mein genereller Eindruck am Rande der letzten zwei-drei Monate. Er macht mich zuversichtlich, dass wir als Gesellschaft diesen Krieg überstehen. Aber auch traurig, welch einen großen Preis doch selbst die Menschen zahlen werden, die den ganzen Scheiß auf den ersten Blick heil und "problemlos" überleben werden.

*schnapp*

Quelle

[https://twitter.com/denistrubetskoy/status/1662060052977467400]


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