Thema:
Re:96 jährige NS Prozess Angeklagte geflüchtet flat
Autor: deros
Datum:01.10.21 09:42
Antwort auf:Re:96 jährige NS Prozess Angeklagte geflüchtet von fianna

>>>Erstens kommt die Aktivität der Justiz Jahrzehnte zu spät und zweitens hat das so ein Geschmäckle von "Hauptsache irgendeinen Schuldigen finden", weil die, über die man eigentlich gerne gerichtet hätte, bereits tot sind. Damit wird kein Unrecht gerade gerückt.
>>
>>Was ist denn eigentlich der Grund dafür, dass man plötzlich vermeintlichen Mittätern kurz vor ihrem Tod noch den Prozess macht? Diese Leute leben seit '45 in Deutschland, ihr Aufenthalt war bekannt, warum klagt man die _jetzt_ an?
>
>In der Regel ist das einfach so, dass durch Geschichtsforschung, neue Aussagen usw. neue Erkenntnisse entstehen. Das wird dann noch mal dauern bis es die Staatsanwaltschaft mitkriegt wenn nicht direkt eine Anzeige gestellt wird.
>
>Mord verjährt nie. Daher muss entsprechend ermittelt werden. Man kann dann nicht sagen: Ok, gut - die ist 95zig, bis das verhandelt wird ist die eh schon tot.
>Das wäre Strafvereitelung. Wie gesagt, es geht hier ja um Mord oder Beihilfe zu Mord.
>
>Rechtstaat heißt eben: Wir klären hinterher (eben im Verfahren). Es muss dann nicht zu einer Verurteilung kommen. Sieht man dann.  Vermutlich gäbs dann eh nur "bewachten" Aufenthalt im Altersheim.
>
>>"Hauptsache irgendeinen Schuldigen finden", weil die, über die man eigentlich gerne gerichtet hätte, bereits tot sind. Damit wird kein Unrecht gerade gerückt."
>
>Darum gehts doch gar nicht. Mord verjährt halt nicht - da gibt es keinen Spielraum. Es MUSS verfolgt werden, wenn das im Raum steht.
>
>Warum gerade jetzt? Das weiß ich auch nicht konkret. Aber anstatt zu spekulieren, recherchier einfach und mach dann den Vorwurf. Ich würde vermuten, dass die entsprechenden Erkenntnisse erst später rausgekommen sind + x Jahre weil Behörden immer lange brauchen, aber man jetzt handeln muss.
>
>Kann natürlich sein dass es nicht so ist. Aber so pauschal sehe ich da kein Geschmäckle. Juristen halt.


Die Rechtssprechung hat sich in den letzten Jahren bei diesem Thema geändert. Früher sagte man, dass man involvierte Personen nur dann verurteilen könne, wenn konkrete (Beihilfe) Tötungsdelikte bewiesen werden konnten. Wie man sich unschwer vorstellen kann, war das in vielen, wenn nicht den meisten Fällen unmöglich. Seit 2011 hat sich jedoch ein neues Verständnis durchgesetzt, das besagt, dass jeder, der in Vernichtungslagern arbeitete, von den dort stattfindenden Ermordungen gewusst haben muss und mit der eigenen Tätigkeit dazu beihalf, den Tötungsapparat reibungslos am Laufen zu halten. Es trifft daher eine funktionelle Beihilfe zu.

Das wir jetzt wieder vermehrt Anklagen von KZ-Tätern sehen, liegt also gar nicht so sehr daran, dass wir neue Erkentnisse gewonnen hätten, sondern auch daran, dass man in der Vergangenheit solche Verfahren für wenig sinnvoll erachtete. Böse Zungen könnten behaupten, dass der deutsche Justizapparat über Jahrzehnte hinweg, gar kein großes Interesse daran hatte, diese Täter verurteilt zu sehen.

Man kann darüber streiten wie viel Sinn es nun noch macht, die letzten Schreibtischtäter untergeordneter Funktion zu bestrafen, nachdem man jahrzehnte lang wichtigere Täter unbehelligt ihr Leben leben ließ. Ich halte die Symbolhaftigkeit dieser neuen Prozesse jedoch trotzdem für wichtig - und am Ende hat dort jeder seinen Teil zu einem der schrecklichsten Kapitel der Menschheitsgeschichte beigetragen. Bedenken, diese Personen ausgerechnet an ihrem Lebensende noch belangen zu wollen, empfinde ich als verfehlt. Sie sollen lieber froh sein, dass sie ihr Leben trotz ihrer Taten so lange unbehelligt leben durften. Dass von diesen über 90 jährigen am Ende wahrscheinlich eh keiner mehr trotz Verurteilung ins Gefängnis gehen wird (und in diesem konkreten Fall gibts vermutlich eh eine Bewährungsstrafe), ist glaube ich den meisten auch klar.


< antworten >